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Die Strategien der Rechtsunsicherheit – Teil 1: Auftakt und die drei Strategien

 

Ich möchte Sie einladen auf eine Reise in eine Welt von Mechanismen, mit deren Hilfe man nicht nur einzelne Sterbliche, sondern eine ganze Gesellschaft in den Wahnsinn treiben kann. Es gibt viele Methoden, andere in den Wahnsinn zu treiben. Die meisten davon sind brutal. Die Mechanismen, die Sie hier kennenlernen werden, sind sanft. So sanft, dass die Opfer glauben, sie lebten in der besten aller Welten.

 

Sie werden hier die Mechanismen des modernen Rechtsstaates kennen lernen. Dieser zieht alle Register der Rechtsunsicherheit und entzieht so den Menschen, die er schützen und denen er festen Halt geben soll, den festen Boden unter den Füßen. Anfangs glaubt sich der Bürger auf sicherem Weg. Doch nichts ist, wie es scheint. Die Treibsandflächen werden größer und größer.

 

Sie sind Opfer von Rechtsunsicherheit? Was immer Ihnen auch widerfahren ist, ich werde Ihnen keinen Ausweg zeigen. Das System der Rechtsunsicherheit ist wie ein ständig sich entwickelnder Virus, der resistent ist gegen alle Medikamente, ja die Medikamente sogar noch für seine Zwecke nutzt.

 

Sie wollen sich nicht daran beteiligen, andere Menschen in den Wahnsinn zu treiben? Das ist nett, hilft aber nichts, weil Sie sich dem System nicht entziehen können.

 

Sie wollen aktiv an der Verunsicherung durch den Rechtsstaat mitwirken? Dann tun Sie das! Sie können das tun, ohne sich die Hände schmutzig zu machen. Sie gelten vielmehr als Stütze unserer Gesellschaft, sei es als Abgeordneter, als Richter, als Juraprofessor, als Politiker, als Ministerialer, als Verwaltungsmitarbeiter, als Rechtsanwalt … .  Ausgerüstet mit ein paar Tipps zum Gestalten einer modernen Rechtsordnung und ein wenig Vernunft, nimmt der Wahnsinn seinen Lauf und es hält ihn – wie der berühmte Staatenlenker Erich Honecker einst August Bebel zitierte – „weder Ochs noch Esel auf“.

 

Überblick

Die Reise in das Reich der rechtsstaatlichen Rechtsunsicherheit ist kein Wochenendtrip. Es handelt sich um eine Rundreise. Wir werden die Reise bei den drei Strategien der Rechtsunsicherheit beginnen, werden uns die Sprache des Rechts ansehen, den Aufbau von Normen und den Aufbau des Rechtssystems. Dann machen wir einen kleinen Ausflug in die Methodenlehre. Von dort geht es weiter zu den Inhalten des Rechts, über Fehlerregeln hin zu den Akteuren des Rechtsstaates, die wesentlich an der Rechtsunsicherheit mitbasteln, die Politiker, die Beamten, die Richter, die Rechtsanwälte. Und kurz vor dem Ende der Reise stehen die wunderbaren Möglichkeiten, die uns das Internet bietet.

Was ist Rechtsunsicherheit? Eine Definition.

Natürlich kann eine Reise durch juristische Gefilde nicht beginnen, ohne dass eine Definition am Anfang stünde:

Der Begriff der Rechtsunsicherheit umfasst die Elemente des Rechtsstaatsprinzips, die die Unverlässlichkeit des Rechts sichern und helfen, Sicherheit über die Rechtslage zu vermeiden. Die Rechtssicherheit konkurriert als Rechtswert ohne Verfassungsrang vor allem mit der Ungesetzlichkeit und der Ungerechtigkeit. Zur Rechtsunsicherheit gehören

  • die Rechtsunklarheit,
  • die Unbestimmtheit, Unbeständigkeit sowie Unvorhersehbarkeit staatlicher Entscheidungen, Rechtsnormen und der konkreten Rechtspflichten und Rechtsansprüche,
  • die Klärung strittiger Rechtsverhältnisse in unangemessener Zeit
  • und die Herstellung von Rechtsunfrieden.

Die Rechtsunsicherheit soll das Vertrauen der Bürger und Staatsorgane in die rechtsstaatliche Unverlässlichkeit der Rechtsordnung bestärken und dieselbe hierdurch befördern.

Die drei Strategien der Rechtsunsicherheit

Es ist noch nicht wissenschaftlich erforscht, ob die Akteure eines Rechtssystems in einem demokratisch und rechtstaatlich verfassten Gemeinwesen einem geheimen Plan folgen oder ob es zufällig oder immerhin naturgesetzlich geschieht, dass sich in einem Rechtsstaat schleichend, aber unaufhörlich Rechtsunsicherheit ausbreitet und den festen Boden verständlicher und überschaubarer Gesetze in eine Moorlandschaft verwandelt, die nur erfahrene Pfadfinder noch zu betreten wagen.

Wie dem auch sei: Wenn Sie bewusst daran mitwirken wollen, im Rechtsstaat Rechtsunsicherheit zu erzeugen, dann sollten Sie die drei Strategien der Rechtsunsicherheit kennen.

Rechtsunsicherheit beruht darauf,

  1. dass man nicht erkennen kann, was gilt. Daraus leitet sich die Strategie der Verunklarung ab.
  2. dass man davon abgehalten wird, zu versuchen zu erkennen, was gilt. Das ist die Wurzel der Strategie der Vergrämung.
  3. dass man, selbst wenn man weiß, was gilt, es doch so ist, dass, egal, was man macht, man immer etwas falsch macht. Das ist die Wurzel der Strategie der Überforderung.

Strategie der Verunklarung

Die erste Strategie, Rechtsunsicherheit zu erzeugen, ist also die Strategie der Verunklarung. Es gilt, die Rechtsordnung so zu gestalten, dass man möglichst weder versteht, wann die Wirkung eines gesetzlichen Befehls ausgelöst wird, noch was man überhaupt tun soll. Verunklarung erreicht man, indem man möglichst viel Raum für unterschiedliche Auffassungen darüber schafft, was im jeweiligen Einzelfall gilt.

Dass Sie nicht wissen, was Sie tun sollen, solche Situationen haben Sie in Ihrem Leben gewiss schon öfters erlebt. Manchmal, weiß man nicht, was man überhaupt will. Manchmal fehlt es am Überblick über die Sachlage. Manchmal kennt man keine Taktik, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Oder es gibt sehr viele Taktiken, von denen man aber nicht weiß, welche am besten ist. Solche Situationen sind nicht schön, kosten Kraft und Energie. Aber aus den meisten kommt man schon ganz passabel heraus, oft entscheidet man sich falsch und die Folgen sind weniger schlimm als erwartet. Manchmal sind sie aber auch eine Katastrophe.

Die Rechtsordnung soll Ihnen für bestimmte Situationen, nämlich für solche, die für das Funktionieren von Gesellschaft und Gemeinwesen als wichtig erachtet werden, Regeln geben, die Sie befolgen sollten, wenn Sie keine Nachteile, z.B. Strafen, erleiden wollen. Wenn nun Regeln, die Ihre Rechtsordnung aufstellt, so sind, dass man auch unter einsichtigen Menschen trefflich streiten kann, was denn die Regeln genau beinhalten, dann sind Sie nicht nur in der Situation, dass Sie nicht wissen, was von Ihnen verlangt wird, sondern Sie wissen deshalb auch nicht, was Sie tun können oder sollen, was jedenfalls dann besonders misslich ist, wenn ein Regelverstoß zu großen Nachteilen führen könnte.

Die Strategie der Verunklarung verfügt über viele Instrumente, die wir noch kennenlernen werden. Sie reichen vom unklaren Wortlaut über Auslegungsmethoden, die den Wortlaut überspielen, über die Stufungen der Rechtsordnungen bis hin zu Prinzipien, die der Einzelfallgerechtigkeit Rechnung tragen wollen.

Strategie der Vergrämung

Die zweite Strategie, Rechtsunsicherheit zu erzeugen, besteht darin, den Bürger von der Rechtsordnung zu vergrämen. Das ist in etwa die Strategie, die man gegen Maulwürfe anwendet, die man nicht töten darf, aber aus dem Garten vertreiben will. Diese Strategie setzt darauf, dem Bürger die Rechtsordnung so zu präsentieren, dass er keine Lust hat, sich mit ihr zu beschäftigen. Er soll das Recht als eine Sache erfahren, die er auch bei größter Anstrengung nicht selbst verstehen kann und von der man sich als juristischer Laie besser fernhält.

Die meisten von Ihnen, liebe Leser, haben diese Strategie bereits in der Schule erlebt. Wenn Sie etwas auch bei größter Anstrengung nicht verstanden haben, dann haben Sie sicherlich irgendwann aufgegeben, es zu verstehen. Manchmal lag es auch am Lehrer, dass Sie etwas nicht verstanden haben. Manchmal wollten Sie vielleicht auch etwas nicht verstehen lernen, weil Ihnen gerade andere Dinge wichtiger waren. Manchmal lag es aber auch am Stoff, dass Sie etwas nicht verstehen konnten. Ein unverständlicher Stoff ist fast immer dadurch gekennzeichnet, dass er sehr komplex ist. Hinzu kommt oft eine unverständliche Formelsprache. Die meisten geben Mathematik nicht beim Einmaleins auf, sondern bei der Integralrechnung.

Die Strategie der Vergrämung in der Rechtsordnung greift diese Alltagserfahrungen auf und setzt vor allem auf Komplexität und Unverständlichkeit, insbesondere auch in der Rechtssprache und im Aufbau der Rechtsordnung. Viele Elemente der Strategie der Verunklarung erhöhen gleichzeitig die Komplexität der Rechtsordnung, so dass man sagen kann, die Vergrämung geht mit der Verunklarung Hand in Hand. Flankieren kann man das noch mit einem kleinen Motivationskiller: „Lieber Laie, man kann ein Gesetz nicht ohne rechtswissenschaftliches Studium verstehen. Überlass das also den Fachleuten!“ Genauso gut könnte man einem Schüler sagen: „Lieber Hans, ich erwarte gar nicht, dass du das lernst. Du bist einfach zu blöd für Mathematik. Setz dich hin und störe wenigstens den Unterricht nicht!“

Strategie der Überforderung

Die dritte Strategie der Rechtsunsicherheit besteht darin, die Rechtsordnung so auszugestalten, dass der Rechtsunterworfene die für ihn geltenden Vorschriften gar nicht befolgen kann, wenn er irgendetwas zu Wege bringen will, und deshalb mehr oder weniger bewusst darauf verzichtet, bestimmte Rechtsvorschriften zu befolgen.

Das erinnert an den „Dienst nach Vorschrift“ als Protestmittel der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst. Da der Dienst nach Vorschrift Protestmittel ist, muss er irgendeiner Weise für den Dienstherrn und die Kunden der Verwaltung nachteilig sein, mithin also die Leistungserbringung der Verwaltung beeinträchtigen. Das bedeutet also, wenn eine Verwaltung alle für sie geltenden Regeln einhält, dann mindert dies die Leistungsfähigkeit der Verwaltung. Also müssen die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes gegen ein paar Vorschriften verstoßen, wenn sie die Leistungsfähigkeit der Verwaltung erhalten wollen. Das ist im Sinne der Überforderungsstrategie ein sehr erfreulicher Zustand.

Im Übrigen hat wahrscheinlich jeder Bürger in seinem Leben schon ein paar Vorschriften nicht befolgt. Die Motive dafür sind unterschiedlichster Art und nicht immer Überforderung. Wenn einer sein Vermögen in Panama vor dem Fiskus versteckt, weil er meint, Steuerehrlichkeit führe zu seiner finanziellen Überforderung, dann ist sein Motiv nicht Überforderung in dem hier gemeinten Sinne, sondern Gier. Aber manches Mal erschwert das Einhalten aller Vorschriften doch so sehr das, was man gerne tun möchte, dass der eine oder andere Bürger schon mal die hundertprozentige Einhaltung der Vorschriften für unverhältnismäßig hält und seine eigene Einschätzung von Verhältnismäßigkeit über die des Gesetzgebers stellt. Je öfters das vorkommt, desto eher sollte das dem Gesetzgeber Anlass zum Nachdenken geben. Als echter Stratege der Rechtsunsicherheit wird der Gesetzgeber natürlich nicht über die Sinnhaftigkeit der Vorschriften nachdenken, sondern darüber, wie er die Situation nutzen kann, um weitere Verunsicherung zu erzeugen. Wie wäre es z.B. damit, weitere Bürokratie zu erfinden mit dem Ziel, die Umgehung der bereits vorhandenen Vorschriften zu verhindern?

Weiter geht es mit Die Strategien der Rechtsunsicherheit – Teil 2: Die Sprache des Rechts – Über die Zweideutigkeit der Rechtssprache, gehirnfeindliche Normen und Gendern!

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Kommentare

Eine Antwort zu „Die Strategien der Rechtsunsicherheit – Teil 1: Auftakt und die drei Strategien“

  1. Prof. Dr. Wulf Eckart Voß, Osnabrück

    Ob man das Problem wachsender Rechtsunsicherheit in Verfolgung von Verschwörungstheorien als das Wirken dunkler Mächte ansieht oder weniger perfide Gründe dafür als ursächlich ansieht, ändert an dem Problem nichts. Dass unsicheres Recht wieder sicher gemacht werden muss, ist die Devise. Das ist auch schon das Credo der ältesten uns bekannten Rechtsgeschichte, der des sabinianischen Rechtslehrers Pomponius aus dem 2. nachchristlichen Jahrhundert. Er nennt beim Durchgang durch die Rechtsepochen seit der römischern Königzeit verschiendene Gründe, darunter durchaus auch absichtliche Verzerrungen des Rechts aus Machtgründen herrschender Stände, aber auch zeitbedingte gesellschaftsspezifische Verwerfungen. Seine Antwort ist, dass, wenn es zu einer geigneten Anpassung der Staatsverfassung und der Gerichtsverfassung gekommen war, jeweils angeleitet von der Rechtswissenschaft unter Durchdringung aller Rechtsfragen mit konkurrierenden Methoden, unsicher gewordenes Recht wieder zu sicherem Recht (certum ius) zurückgeführt wurde. Dass einst sicheres Recht unsicher wird und die Rechtssicherheit demnach in jeder Epoche wieder hergestellt und abgesichert werden muss, ist also der schon von Pomponius mitgeteilte Sinn der Rechtsgeschichte: Rechtsunsicherheit entsteht aus den verschiedensten Gründen, das eine Mal willkürlich, das andere Mal zwangsläufig, stets mit der Folge, dass einst sicheres Recht im Laufe der Zeit unsicher wird. Wie es also bisher in allen Epochen die Aufgabe bedeutender Juristen in Gesetzgebung, Justizverwaltung, Rechtssprechung und Wissenschaft gewesen ist, zur Rechtssicherheit zurückzufinden, so wird es auch die Aufgabe künftig sein, nun aber auch die von Juristinnen. Also: sich nicht über unsicheres Recht wundern und nicht darüber klagen, sondern Ärmel aufkrempeln und abermals Abhilfe schaffen! W.E.V.

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