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Bernd Rüthers: Die heimliche Revolution vom Rechtsstaat zum Richterstaat

Der Essay „Die heimliche Revolution vom Rechtsstaat zum Richterstaat“ von Bernd Rüthers (Werbung) eignet sich nicht nur als Geschenk für Juristen. Er ist relativ preiswert, handlich im Format und vollgepackt mit wertvollen Inhalten. Und er ist Pflichtlektüre für Juristen und solche, die es werden wollen. Denn: Wie sollen wir Juristen verantwortungsvoll unser Handwerk betreiben, wenn wir nicht von Zeit zu Zeit einen Schritt zurücktreten und uns vergewissern, was wir eigentlich tun?
Auf den ersten Seiten des Essays findet sich ein Zitat von Odo Marquard (Werbung), das eine Initialzündung für Rüthers gewesen sein muss, sich mit Rechts- und Methodenwechseln bei Wechseln der politischen Systeme zu beschäftigen: „Hermeneutik ist die Kunst aus einem Text herauszukriegen, was nicht drinsteht : wozu –wenn man doch den Text hat – braucht man sie sonst?“
Rüthers stellt fest, dass die mit den politischen System- und Verfassungswechseln in der jüngeren deutschen Vergangenheit jeweils einhergehenden umfassenden Rechtserneuerungen sich nicht dadurch vollzogen, dass die Einzelvorschriften dem neuen System gemäß textlich geändert wurden. Vielmehr blieben über lange Zeit wichtige Kodifikationen textlich unverändert, wurden aber im Geiste des neuen Systems angewendet bzw. umgewertet. Die daraus resultierende Frage geht jeden Juristen an: Wie kann es sein, dass Juristen in der Weimarer Republik, im NS-Staat, in der „alten“ Bundesrepublik und in der DDR die gleiche Rechtsvorschriften angewendet haben, dabei aber zu völlig unterschiedlichen, nämlich dem jeweiligen System entsprechenden, teilweise völlig konträren Auslegungsergebnissen kamen?
In diesem Zusammenhang räumt Rüthers mit einem Mythos auf, dem wahrscheinlich die meisten Juristen aufgesessen sind, die nach 1945 ihre akademische Ausbildung erhalten haben: Mit dem Mythos, dass es der Gesetzespositivismus war, der die Greueljustiz der NS-Zeit ermöglichte. In Wahrheit waren es Richter, Professoren, Staatsanwälte und Beamte, die im vorauseilenden Gehorsam gegenüber dem neuen Regime die gesamte Rechtsordnung im nationalsozialistischen Sinne umdeuteten, indem sie mittels neuer Rechtsideen, außergesetzlicher Rechtsquellen und Auslegungsakrobatik die positivistische Bindung der Staatsgewalt an die geltenden Gesetze aufhoben. Mit diesem Mythos ging eine Renaissance des Naturrechts einher. Man wollte Unrechtssystemen übergesetzliche Grenzen setzen. Einer künftigen Perversion der Rechtsordnung wie unter dem Nationalsozialismus sollte ein Riegel vorgeschoben werden.
Wieso aber wurde in der Bundesrepublik nach 1945 der Mythos gepflegt, blinder Gesetzesgehorsam habe nationalsozialistisches Justiz- und Verwaltungsunrecht ermöglicht? Ganz einfach: So konnten die in den Nationalsozialismus tief verstrickten Juristen, die in der jungen Bundesrepublik weiterhin Karriere machen wollten (und konnten), sich exkulpieren. Die Dominanz der Nazi-Juristen in der jungen Bundesrepublik war so groß, dass die Methodendiskussion der Nazi-Zeit jahrzehntelang totgeschwiegen wurde. Dabei handelte es sich genau um die Zeit, in der die sogenannte „objektive Auslegung“ oder „objektiv-teleologische Auslegung“ von Gesetzen ihren Siegeszug antrat und konsequent genutzt wurde, um die nationalsozialistische Ideologie in die überkommenen Gesetze hineinzulesen.
Die „objektive Auslegung“ von Gesetzen orientiert sich nicht an dem, was der Gesetzgeber mit der Norm bezweckte, welche Ziele er erreichen wollte, sondern an einem objektiven – vom Willen des Gesetzgebers unabhängigen – Willen des Gesetzes, an einem „vernünftigen Willen des Gesetzes im Zeitpunkt seiner Anwendung“. Und man kann Rüthers in der Bewertung folgen: „Es handelt sich … in Wahrheit um die subjektiven rechtspolitischen Eigenproduktionen der Interpreten“ – und nicht etwa um eine wissenschaftliche Methode. Das zeigt sich bereits darin, dass sich die qua „objektiver Auslegung“ gewonnenen Auslegungsergebnisse nicht falsifizieren lassen. Die Methode der „objektiven Auslegung“ dient nicht der Auslegung von Gesetzen, sondern der „Einlegung“ in Gesetze. Gleiches gilt für Rekurse auf Naturrecht oder „übergesetzliches Recht“ und ähnliches.
Rüthers schildert, wie naturrechtlich inspiriertes Wertedenken und die Entgrenzung der Auslegung durch die Methode der objektiven Gesetzesauslegung dazu geführt haben, dass das Bundesverfassungsgericht weniger Rechtsfindung als Normsetzung betreibt. Dem methodischen Vorbild des Bundesverfassungsgerichts sind die übrigen Obergerichte bereitwillig gefolgt. Wer oder was kontrolliert oder diszipliniert das Bundesverfassungsgericht? Rüthers positioniert sich zurückhaltend: Wissenschaft und öffentlicher Diskurs sind nur beschränkt wirksam. Und wie sollen Dogmatik und Methodenlehre disziplinierend ausgerechnet auf die wirken, die deren Inhalte maßgeblich bestimmen?
Vorgaben des Grundgesetzes für die Methodik der Rechtsanwendung findet Rüthers in den Grundsätzen der Rechtsbindung des Richters und der Gewaltenteilung sowie im Demokratieprinzip. Wo es ein Gesetz gibt, dort muss die Auslegung am rechtspolitischen Willen des Gesetzgebers ansetzen. Der Richter darf nicht seine eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen an die Stelle der Gerechtigkeitsvorstellungen des Gesetzgebers setzen. Auch unter gewandelten Bedingungen hat der Richter den Willen des Gesetzgebers zuverlässig zur Geltung zu bringen. Damit nicht vereinbar ist die „Freiheit der Methodenwahl“ bei der Rechtsanwendung. Diese führt allzu oft dazu, dass erst ein Ergebnis gefunden wird und dann die passende Auslegungsmethode dazu. Das Bundesverfassungsgericht hat sich hierzu schwankend positioniert. Rüthers scheint die Hoffnung zu hegen, es gebe einen gewissen Trend, die Freiheit der Methodenwahl zu beschränken.
Konsequent überträgt Rüthers die vorstehenden Grundsätze auch auf das Bundesverfassungsgericht, zieht dabei die Vorschriften über Verfassungsänderungen heran und stellt fest, dass das Bundesverfassungsgericht zwar befugt ist, die Verfassung dort fortzuentwickeln, wo sie lückenhaft ist, nicht jedoch befugt ist, die Verfassung durch Abweichung von in derselben festgelegten Maßstäben zu ändern. Die Normzwecke des Grundgesetzes ergeben sich aus seiner Entstehungsgeschichte und dem Gestaltungswillen des Verfassungsgebers. Sie müssten primäre Leitlinie für die Auslegung und Anwendung des Verfassungsrechts sein. Gerade Verfassungsbestimmungen sind aus der Sicht des Verfassungsgebers als rechtlicher Ordnungsrahmen für einen Staat nicht kurzfristig, sondern auf lange Sicht und aufgrund geschichtlicher Erfahrungen konzipiert. Stattdessen generiert sich – wie Rüthers anhand einiger Beispiele, insbesondere anhand der Erstreckung des Ehegattensplittings auf gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften durch das Bundesverfassungsgericht zeigt –das Bundesverfassungsgericht weniger als Hüter, denn als Herr der Verfassung. Es löst sich vom Willen des historischen Verfassungsgebers bzw. ignoriert diesen völlig und macht den ideologischen Gestaltungswillen seiner Mitglieder zur Leitschnur verfassungsändernder Rechtsprechung. Inhaltlich mag man es an der einen oder anderen Stelle begrüßen, dass sich das Bundesverfassungsgericht zum Motor gesellschaftlicher Entwicklung macht. Das ist aber nicht seine von der Verfassung vorgesehene Rolle.
Dass die Mehrheit der Staatsrechtslehrer diese Entwicklung nicht mit der gebotenen Schärfe entgegentreten, dafür hat Rüthers eine einleuchtende These: Viele Staatsrechtler träumen davon, selbst einmal Mitglied des Bundesverfassungsgerichts zu werden … .
Bei alledem erkennt Rüthers die besondere Entwicklungsoffenheit und Auslegungsbedürftigkeit von Verfassungsnormen an und weist auf die besonderen Probleme hin, die sich aus der Einbindung in die Europäische Union ergeben.
Rüthers betont weiterhin die Notwendigkeit von Richterrecht, auch von Verfassungsrichterrecht. Richterrecht ist erforderlich, um Rechtsverweigerung zu vermeiden, wenn das Recht lückenhaft ist, z.B. weil es durch rasante Entwicklungen der Faktenlage, durch technische, ökologische oder kulturelle Entwicklungen überholt wurde, aber auch, weil der Gesetzgeber unwillig oder unfähig ist zu regeln. Hier plädiert Rüthers für mehr Methodenehrlichkeit: Richterrecht ist Normsetzung und sollte als Rechtsquelle anerkannt werden. Richterrecht ist Rechtspolitik. Dabei kann aber dem Richter nicht dieselbe Freiheit zustehen, wie dem Gesetzgeber: Der lückenschließende Richter hat sich darauf zu beschränken, das bestehende Rechtssystem anhand der vorgegebenen gesetzgeberischen Wertungen zu vollenden.
Am Ende des Nachworts der 2. Auflage steht das einfache, klares Fazit: „Die Umgestaltung der Gesellschaft und der Rechtsordnung oder gar der Verfassung ist im demokratischen Verfassungsstaat allein die Aufgabe der demokratisch legitimierten Organe der Gesetzgebung, nicht der Gerichte, auch nicht des Bundesverfassungsgerichts.“ Quod erat demonstrandum. – Was zu beweisen war.

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