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Die Strategien der Rechtsunsicherheit – Teil 16: Juristisches Arbeiten im Zeitalter des Internets und der Digitalisierung

Sie wissen, Wissenschaftler, Verlagen und Autoren sind die Brunnenvergifter der Rechtssicherheit. Aber es gibt jemanden, der noch größer und mächtiger als diese sein kann: Das Internet. Die große Herausforderung der Zukunft für die Strategen der Rechtsunsicherheit ist die Veränderung der Arbeitswelt für Juristen durch das Internet. Die damit verbundenen Möglichkeiten müssen so genutzt werden, dass sie einen Beitrag zur Chaotisierung des Rechts leisten.

Dabei geht es nicht nur darum, Gerichtsverhandlungen dadurch zu chaotisieren, dass ein Rechtsanwalt spontan aus einer App irgendeine Entscheidung aus dem Hut zaubert, die das Gericht nicht kennt und es der näheren Lektüre bedarf, um festzustellen, dass die Entscheidung entgegen der anwaltlichen Versicherung überhaupt nichts mit der streitigen Rechtsfrage zu tun hat. Es geht auch nicht darum, dass der Arbeitsdruck für die Juristen in den Gerichten, Verwaltungen und Anwaltskanzleien und damit deren Neigung, Fehler zu machen, immer höher wird, weil man höheren Orts meint, die Wunder der Digitalisierung ermöglichten eine Vervielfachung des Arbeitspensums. Es geht auch nicht darum, Verlinkungen an die Stelle des nicht mehr ganz so modernen Copy-und-Paste von Textbausteinen zu setzen. Es geht um mehr, nämlich darum, das juristische Denken und Arbeiten zu verändern.

Step 59: Informationen im Überfluss und in Echtzeit

Traditionelles juristisches Denken ist Reduktion von Komplexität. Das juristische Denken von morgen ist die Expansion von Information. Die jederzeitige Verfügbarkeit einer enormen Menge an Informationen und die Ergänzung des Informationsbestandes in Echtzeit um aktuelle Entwicklungen stellen neue Anforderungen an das juristische Denken. Will man sicher sein, alle relevanten Informationen zu einer Rechtsproblematik gesichtet zu haben? Als guter Stratege der Rechtsunsicherheit und Mensch im Zeitalter der Digitalisierung werden Sie sagen: Ja! Ohne eine vollständige Informationsbasis gibt es keine sichere rechtliche Beurteilung! Sind Sie Richter am Bundesgerichtshof? Zuständig für das Anwaltshaftungsrecht und für das Amtshaftungsrecht? Dann können Sie, wenn Sie mal wieder mit der Frage der Sorgfaltspflichten von Anwälten und Beamten konfrontiert sind, zwei Grundsätze entwickeln, die den Maßstab für die gebotene Recherchetiefe bilden: Der eine Grundsatz ist der der Vollständigkeit der Ausschöpfung aller Recherchequellen von Google über professionelle juristische Informationssysteme bis hin zu sozialen Netzwerken. Anwälte müssen zusätzlich verpflichtet werden, unmittelbar vor Beginn der mündlichen Verhandlung zu überprüfen, ob es aktuellere Treffer gibt. Der andere Grundsatz ist der der vollständigen Abarbeitung aller Suchmaschinentreffer. Noch nicht genug „information overload“? Dann können Sie ja noch das Verfolgen aller Links vorschreiben. Das Ergebnis wird sein, dass jedes juristische Denken mit einem Gefühl der Verunsicherung einhergeht, also mit dem klassischen Symptom der Rechtsunsicherheit. Es könnte ja irgendwo noch eine Entscheidung geben, die der Suchalgorithmus nicht erfasst hat. Es könnte sein, dass die aktuelle Rechtsprechung von vor zwei Wochen just heute morgen durch eine neuere Entscheidung wieder in Frage gestellt ist. Informationsflut und Aktualisierungsgeschwindigkeit lassen die Rechtsordnung unsicher und vorläufig erscheinen. Je größer die Informationsmenge, desto größer ist auch die Gefahr widersprüchlicher Informationen. Und Unsicherheit macht Menschen nicht nur produktiver, sondern – ganz im Sinne der Rechtsunsicherheit – auch kreativer und fehlergeneigter.

Die Anbieter juristischer Informationssysteme können das ihre dazu beitragen, um die Juristen in permanenter Verunsicherung zu halten. Dazu müssen sie nur Internet-Kommentare herausgeben, die von ihren Autoren in Echtzeit aktualisiert werden. Es gibt einen Fachausdruck dafür: Bananenware. Das ist ein permanent unreif gehaltenes Produkt, das niemals fertig ist, und wenn vorne etwas geändert worden ist, weiß man nicht, ob das mit hinten noch übereinstimmt.

Step 60: Vernetztes juristisches Denken

In der Zukunft wird nicht nur die Menge und die Aktualität der Informationen Einfluss auf das juristische Denken haben, sondern sich das juristische Denken auch immer mehr den Möglichkeiten der digitalen Welt öffnen müssen. Diese bestehen vor allem in den unglaublichen Möglichkeiten der Vernetzung. Dabei geht es nicht nur um die Vernetzung von Juristen über juristische Foren, Chatrooms oder Social Media. Es geht um das vernetzte juristische Denken. An die Stelle des aus der analogen Welt tradiierten linearen Abarbeitens normativ vorgegebener hierarchisierter Strukturen wird das gleichzeitige Aktivieren von durch Tags und Links hergestellten Verknüpfungen in neuronalen juristischen Netzwerken treten. Die Aufgabe von juristischen Suchmaschinen wird es sein, bislang unbekannte, außerhalb jeden Systemzusammenhanges stehende Verknüpfungen zwischen Informationen aus den verschiedensten Quellen aufzufinden.

Voraussetzung dafür ist der Grundsatz der Gleichrangigkeit aller im Internet erhältlichen juristischen Information. Diesen durchzusetzen ist vorrangige Aufgabe aller Strategen der Rechtsunsicherheit. Die früher übliche Vorfilterung der Informationen durch amtliche Rechtsprechungssammlungen und Fachzeitschriften entfällt im Interesse der Meinungspluralität. Ober- und untergerichtliche Rechtsprechung, Grundsatzentscheidungen oder Einzelfallentscheidungen, Expertenmeinung oder Betroffenenbeitrag in Social-media sind alle von gleicher Bedeutung. Die Obergerichte werden einen Autoritätsverlust erleiden. Das ist jedoch konsequent im Hinblick darauf, dass es nicht nur eine Wahrheit, sondern viele, nicht nur eine Richtigkeit, sondern viele Richtigkeiten gibt. Jeder hat seine eigene Wahrheit, die es objektiv zusammenzufassen gilt. Allerdings sollte eine gewisse Qualitätskontrolle durch Schwarmintelligenz zugelassen werden. So kann die Seriosität juristischer Webseiten anhand der Zahl der Follower und die Seriosität einzelner Beiträge anhand der Zahl der Likes festgestellt werden. Auch die Mitarbeit vieler an einem Werk nach dem Wiki-Prinzip sollte als Ausweis von Seriosität gelten.

Um der mit der Informationsflut und Vernetzung einhergehenden Steigerung der Komplexität zu begegnen, bedarf es einer zeitgemäßen Abflachung des juristischen Denkens. Das analytisch geprägte juristische Denken wird sich von der Gesetzestextauslegung und der Subsumtion von Tatsachen unter Tatbestandsmerkmale emanzipieren. Das juristische Denken wird sich zu einem assoziativen Denken, das auf die Ähnlichkeit zu beliebigen Sachverhalten abstellt, wandeln. So verschwimmen rechtsdogmatische Grundsätze, treten hinter Einzelfälle zurück, bis sie schließlich ganz verschwinden. Künftige Juristen werden die Rechtsordnung anwenden können, ohne dass sie verstehen, wie sie funktioniert. Um auch nicht vergleichbare Sachverhalte miteinander vergleichen zu können, wird die bislang nicht anerkannte juristische Methode der Dekontextualisierung verwendet, also das Entfernen von die Vergleichbarkeit der Sachverhalte störenden Elementen. Deshalb stärken Strategen der Rechtsunsicherheit Juristen, die unabhängig von Sinn und Zweck einer Norm, unabhängig von systematischen Zusammenhängen, unabhängig von Obersätzen und dogmatischen Ableitungen, Falllösungen ausschließlich anhand von Vergleichen mit anderen Falllösungen – vorwiegend aus der Rechtsprechung –entwickeln. Das war bislang Kennzeichen unzureichenden methodischen Könnens, kann aber im Zeitalter des Internets zur maßgeblichen Rechtsanwendungsmethode erhoben werden. Die jüngeren Juristengenerationen, die sogenannten „juri-digital-natives“, beherrschen diese Arbeitsmethode schon bis zur Vollendung. Bis diese Generationen das Kommando in den Obergerichten übernommen haben, wird es noch zu herrlichen Auseinandersetzungen mit den dort noch vorherrschenden Dogmatikern alter Schule kommen. Ein Festmahl für Strategen der Rechtsunsicherheit.

Weiter geht es mit Die Strategien der Rechtsunsicherheit – Teil 17: Strategien gegen eine Vereinfachung der Rechtsordnung – Die Bollwerke der Rechtsunsicherheit: Trägheit, Angst, Mythen und TINA!

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