“Der Ausleger kann das Gesetz besser verstehen als seine Schöpfer es verstanden haben, das Gesetz kann klüger sein als seine Verfasser – es muss sogar klüger sein als seine Verfasser” (Gustav Radbruch).
Einem jeden Jurastudenten werden sie gelehrt, die vier Methoden der Gesetzesauslegung: Die Auslegung nach dem Wortsinn (grammatische Auslegung), nach dem systematischen Zusammenhang der Norm (systematische Auslegung), nach der Gesetzeshistorie (historische Auslegung) und nach Sinn und Zweck der Norm (teleologische Auslegung). Die historische Auslegung trifft sich, soweit sie auf die Entstehungsgeschichte der Norm zurückgreift, mit der teleologischen Auslegung. Es geht nämlich bei der Auslegung nach der Gesetzeshistorie um die Ermittlung des subjektiven Willens des historischen Gesetzgebers, während es bei der teleologischen Auslegung um einen objektiven Sinn und Zweck geht. Letzterer gibt Anlass zu rechtstheoretischen und rechtsphilosophischen Betrachtungen, die hier aber nicht angestellt werden sollen. Hier genügt es, festzuhalten, dass es sinnvoll sein kann, den Willen des historischen Gesetzgebers zu ermitteln. Aber: Wie macht man das?
Relativ einfach wäre es, wenn es sich bei “dem Gesetzgeber” um nur eine Person handeln würde. Das ist jedoch nicht der Fall. Vielmehr sind an der Gesetzgebung mehrere Institutionen beteiligt, in denen eine Menge von Personen mit oftmals sehr unterschiedlichen Vorstellungen über das, was geregelt werden soll, handeln. Die Ermittlung des Willens des Gesetzgebers muss deshalb damit anfangen, zu recherchieren, was die an dem Gesetzgebungsvorhaben Beteiligten wollten. Allerdings haben einige der Beteiligten nichts gesagt, dennoch manchmal etwas gewollt und auch gedacht – und das Gedachte und Gewollte manchmal auch mit Bedacht verschwiegen. Aber: Die historische Gesetzesauslegung hat keine Wahl: Sie geht davon aus, dass die am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten redlich waren und gesagt haben, was sie gedacht und gewollt haben.
Will man herausfinden, was die an einem bestimmten Gesetzgebungsverfahren Beteiligten gesagt haben, wäre es nicht schlecht, wenn man wüsste, wer denn überhaupt am Gesetzgebungsverfahren beteiligt war und wie das Gesetzgebungsverfahren abgelaufen ist. Es gibt in den Ländern zwei, im Bund drei Möglichkeiten, ein Gesetzgebungsverfahren in Gang zu setzen: Entweder bringt die jeweilige Regierung einen Gesetzesantrag in das parlamentarische Verfahren ein oder die Fraktionen im Land- bzw. Bundestag tun das oder es wird – natürlich nur im Bund – der Bundesrat aktiv. In Zeiten des Internets braucht man sich nicht mehr durch staubige Bibliotheken durchzuwühlen. Die Landtage bzw. der Bundestag und der Bundesrat veröffentlichen die Gesetzesanträge nicht nur als Drucksachen, sondern stellen sie auch ins Netz. Die Gesetzesanträge werden nicht in erster Linie für den neugierigen Bürger gedruckt, sondern weil die Parlamentarier sie lesen und beraten sollen. Damit der Parlamentarier überhaupt verstehen kann, was die vielen Normsetzungsbefehle überhaupt bedeuten und was man mit den Regelungen erreichen will, fügt man den Gesetzesanträgen meist eine Begründung hinzu, die sich dann hoffentlich nicht in der bloßen Wiederholung des Normtextes erschöpft … Und tut sich in Parlament und in den Ausschüssen nichts Weltbewegendes mehr, wird vor allem nichts geändert, kann man – sofern sich aus anderen Materialien keine gegenteiligen Anhaltspunkte ergeben – davon ausgehen, dass die Parlamentarier den Regelungszweck, der aus der Begründung ersichtlich ist, in ihren Willen aufgenommen haben …
Allerdings möchte man sich manchmal nicht mit dem, was in der gedruckten Begründung steht, begnügen. Da kann es von Interesse sein, in die Vorarbeiten für den Gesetzesantrag zu schauen. Das ist nicht immer möglich. Bei wichtigen Gesetzesvorhaben jedoch veröffentlichen die Ministerien Referentenentwürfe und bisweilen auch Materialien zu einer eventuell durchgeführten Verbändebeteiligung. Ist das Gesetzesvorhaben bzw. das Gesetz aktuell, kann sich ein Blick in die Webseiten des Ministeriums lohnen. Oft ist es so, dass der Ministerialbeamte, der einen Gesetzesantrag entworfen hat, der einzige ist, der wirklich eine Vorstellung davon hat, was geregelt und bezweckt wird. Schreibt ein solcher Beamter einen Kommentar zu diesem Gesetz, ist es häufig der Mühe wert, dessen Auffassung zur Kenntnis zu nehmen …
Aber auch, wenn die Fraktionen einen Gesetzesantrag stellen, kann es sein, dass der Gesetzesantrag doch aus der Feder eines Ministeriums stammt. Das ist zwar nicht im Sinne der Erfinder der Gewaltenteilung, weil sich nämlich Parlament und Regierung im gewaltenteilenden Staat auch im Gesetzgebungsverfahren gegenseitig konstruktiv kritisch begleiten sollen. Oft sind die Fraktionen jedoch nicht in der Lage, selbst einen Gesetzentwurf zustande zu bringen … Dann gibt es natürlich kein Material aus der Hand des Ministeriums. In der Bundesgesetzgebung kann auch der Bundesrat ein Gesetz initiieren. Einen Gesetzesantrag des Bundesrates leitet die Bundesregierung an den Bundestag weiter. Sie kann eine Stellungnahme beifügen, die wiederum als Drucksache veröffentlicht wird. Und umgekehrt leitet die Bundesregierung, wenn sie einen Gesetzantrag einbringen will, diesen vorher dem Bundesrat zur Stellungnahme zu. Dann gibt es Materialien aus den Ausschüssen und dem Plenum des Bundesrates zu diesen Gesetzesanträgen, die recherchiert werden können.
Dort passiert nämlich das, was nun im Parlament geschieht: Der Gesetzesantrag wird – im Regelfall im mehreren Lesungen – beraten. In der ersten Lesung allerdings wird er regelmäßig nur in die Ausschüsse überwiesen. Wird dazu ausnahmsweise im Parlamentsplenum debattiert, kann man das in den Plenarprotokollen nachlesen. Diese können über die Server der Parlamente recherchiert werden. In die Ausschüsse wird überwiesen und dort findet die eigentliche Arbeit statt, weil auch die Abgeordneten – auch wenn sie das manchmal selbst nicht merken – keine Tausendsassas ist. Sie können weder alles lesen noch alles verstehen. Sie spezialisieren sich deshalb. Die Spezialisten unter den Parlamentariern sollen in den Ausschüssen sitzen. Leider können die Ausschussprotokolle nicht durchgängig auf den Webseiten der Parlamente recherchiert werden. Es kann deshalb vorkommen, dass der Gang in dunkle Archive unumgänglich wird. Da in den Ausschüssen die eigentliche Parlamentsarbeit verrichtet wird, kann man manche Wendung im Gesetzgebungsverfahren nur vor dem Hintergrund der Ausschussbefassung verstanden werden. Kam der Antrag von den Fraktionen, hat vielleicht die jeweilige Regierung auch eine Stellungnahme abgegeben. Haben die Ausschüsse beraten, liegt dem Parlament in zweiter Lesung der Gesetzesantrag mit Ausschussempfehlungen, gegebenenfalls mit einem Bericht der Berichterstatter des federführenden Ausschusses und mit den Anträgen der Fraktionen vor. So gerüstet, kann die Debatte im Parlament losgehen …
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Bei der Auswertung der Debattenbeiträge für die historische Auslegung ist Zurückhaltung geboten, aus vereinzelten Äußerungen von Parlamentariern auf den „Willen des Gesetzgebers“ zu schließen. Ausschlaggebend für die Ermittlung des “Willens des Gesetzegebers” dürften tendenziell die Beiträge der Abgeordneten sein, deren Fraktionen das spätere Gesetz tragen … Im Bundestag gibt es eine zweite Lesung und oft unmittelbar anschließend eine dritte Lesung. In den Landesparlamenten ist eine dritte Lesung regelmäßig nur auf Verlangen des Landtagspräsidenten oder der Regierung vorgesehen. Ein Verlangen der Regierung kann man in der Praxis mit der Lupe suchen, so selten kommt es vor. Welche Regierung will sich schon mit der sie tragenden Parlamentsmehrheit anlegen? Da einigt man sich doch lieber vorher und hält hinterher den Mund.
In der Bundesgesetzgebung wird der Gesetzesbeschluss noch dem Bundesrat vorgelegt, der – regelmäßig nach Ausschussberatungen – berät und gegebenenfalls den Vermittlungsausschuss anrufen kann. Dessen Beschlussempfehlungen sind auslegungstechnisch gesehen das Papier nicht wert, auf dem sie stehen. Es fehlt nämlich meist an einer Begründung, was manchmal daran liegt, dass der eigentliche Einigungsprozess ohnehin nicht im Ausschuss, sondern außerhalb stattfindet.
Die Schlussakte des Gesetzgebungsverfahrens, die Ausfertigung und Verkündigung des Gesetzes, sind auslegungstechnisch uninteressant. Es sei denn das verkündende Organ äußert Bedenken, dass das Gesetz verfassungsgemäß zustande gekommen ist …
Ein solcher Ritt durch das Gesetzgebungsverfahren kann natürlich nur eine grobe Vorstellung vermitteln. Dem, der nach dem Willen des historischen Gesetzgebers forscht, sei zusammenfassend geraten, sich erst mit dem jeweiligen Gesetzgebungsverfahren vertraut zu machen – und dann ab in die (digitalen) Archive!
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