Gerechtigkeit gehört zu den Werkzeugen für die rechtspolitische Analyse. Es gibt unterschiedliche Gerechtigkeitsvorstellungen. Dazu wurde unter Gerechtigkeit schon ein wenig ausgeführt. Welche Gerechtigkeitsvorstellung die – jeweils – adäquate ist, ist oft nicht leicht zu beantworten. Um Stellung zu einem bestimmten Gesetz oder Gesetzesvorhaben zu beziehen, ist es jedoch nicht erforderlich, sich mit den Werken der großen Rechtsphilosophen auseinanderzusetzen. Für praktische Zwecke kann oft die mikrosoziale Analyse helfen. Sie gehört in den Werkzeugkoffer für die rechtspolitische Analyse.
Recht ist abstrakt betrachtet eine Reihe von Regeln, die in einer Gruppe gelten. In einer Gruppe können die Regeln von außen oder von einem oder mehreren dominanten Mitgliedern oder von der Mehrheit der Mitglieder der Gruppe aufgezwungen worden sein. Die Regeln können aber auch ausverhandelt worden sein. Wie auch immer: Staatliches Recht beinhaltet nicht mehr und nicht weniger als Regeln, die in einer besonderen meist territorial, zum Teil auch staatsbürgerschaftlich definierten Gruppe gelten. Die Besonderheit dieser Gruppe ist, dass sie eine sehr große Anzahl von Mitgliedern umfasst. Gruppen mit einer großen Anzahl von Mitgliedern neigen zu starken Binnendifferenzierungen, also dazu, viele, sich überschneidende Untergruppen zu bilden, die sich nach den verschiedensten Gesichtspunkten organisieren, nämlich im Grunde nach Interessen. Solche großen Gruppen neigen dementsprechend auch dazu, entsprechend ausdifferenzierte und deshalb komplexe Regeln zu bilden. Komplexes staatliches Recht in komplexen staatlichen Gesellschaften tendiert dazu, die dahinter stehenden Interessen zu verschleiern. Es ist oft schon kaum mehr möglich, das Recht überhaupt zu verstehen, viel weniger noch, die unterschiedlichen Auswirkungen des äußerlich für alle gleich geltenden Rechts auf die unterschiedlichen Gruppen in einem Staat nachzuvollziehen.
Die mikrosoziale Analyse des Rechts versucht das zu analysierende Recht auf eine kleine Gruppe herunter zu brechen und so die hinter dem Recht stehenden Gerechtigkeitsmaximen und die Brüche dieser Maximen aufzudecken. Dazu ein Beispiel:
Ein Gesetz gewährt eine staatliche Unterstützung für jeden Bürger, der seinen Lebensunterhalt nicht aus eigener Kraft und aus eigenen Mitteln deckt, unabhängig davon, warum der Bürger unterstützungsbedürftig ist. Jetzt stellen wir uns mal in einem steinzeitlich geprägten Umfeld eine kleine Gruppe aus zehn Personen alle gleichen Alters vor. Die Mitglieder der Gruppe sind untereinander weder verwandt noch verschwägert. Alle Mitglieder der Gruppe jagen und sammeln Beeren oder bauen Hütten. Jeder tut das, was er am besten kann und alle teilen. Nur einer, nennen wir ihn mal Lazy, der tut nichts, jedenfalls nichts, was den anderen auch nutzt, will aber mit essen. Sofort würde die Gruppe sich auf die Regel berufen: Wer nichts für die Gruppe tut, soll auch nicht an dem teilhaben, was die Mitglieder der Gruppe erwirtschaftet haben. Oder: Wer nicht arbeitet, soll nicht essen! Auf diesen biblischen Satz haben sich nicht nur die Nazis berufen, sondern auch Stalin. Der Satz ist deshalb desavouiert, als klare Regel aber unter bestimmten Umständen nichtsdestotrotz gültig. Was dahinter steckt, liegt auf der Hand: Jeder, der arbeitet, muss für Lazy mitarbeiten. Er muss mehr arbeiten, um den gleichen Ertrag für sich zu erzielen. Wenn es also keinen plausiblen Grund gibt, warum Lazy nicht arbeitet, z.B. weil er krank ist, gibt es auch keinen Grund ihn mitessen zu lassen. Das bloße Nichtwollen ist kein Grund für Solidarität. Je nach den Lebensumständen der Gruppe, kann das Durchfüttern von Lazy die Existenz der Gruppe bedrohen – zumal, wenn es mehrere Lazys gibt.
Warum aber schaffen moderne Sozialstaaten Gesetze, die dieses Prinzip durchbrechen? Das liegt am Manna-Prinzip. Manna ist das Brot, das für die Israeliten während ihrer langen Wanderung durch die Wüste vom Himmel fiel. Die Israeliten hatten zwar während ihrer Wanderung durch die Wüste genug Probleme, mussten aber für ihr Brot nicht arbeiten. Stellen wir uns also die Kleingruppe im Paradies vor. Alles grün und warm. Keine Stechmücken. Das Brot und andere Leckereien fallen vom Himmel. Niemand muss arbeiten, aber alle bis auf Lazy tun es. Sie arbeiten nicht fürs Brot oder andere Lebensnotwendigkeiten, sondern z.B. weil ihre steinzeitliche Überlieferung das verlangt oder weil sie sich goldene Wasserhähne und anderen eitlen Tand leisten wollen. Dummerweise hat die Gruppe ein dominantes Mitglied, nennen wir es Alpha, das – aus welchen Gründen auch immer – Chef der Gruppe ist. Als solcher macht er auch die Regeln – und Sie ahnen es schon – auch die Regel: Wer nicht arbeitet, soll nicht essen. Und da sitzt Alpha, teilt das Manna zu, und gibt Lazy nichts. Lazy verhungert oder arbeitet. Oder er beruft sich auf das Manna-Prinzip: Jedem das Gleiche. Das Manna-Prinzip gilt, wenn es um die Zuteilung von Gütern geht, für die niemand arbeiten musste. Gegen das Manna-Prinzip hilft nur das Recht des Stärkeren.
Und jetzt kommen wir zu einem Wunder: Moderne Staaten schaffen es, aus Erarbeitetem Manna zu machen und aus Manna Erarbeitetes. Jedenfalls rechtlich. Und das geht so: In der Kleingruppe gibt es ich, du und wir. Im Staat gibt es ich, du und er – der Staat. Die Identifizierung mit dem Staat löst sich auf. Nicht: Wir sind der Staat. Sondern: Ich und der Staat. Rechtlich zeigt sich das darin, dass der Staat eine eigene Rechtspersönlichkeit hat. Nicht: Wir geben für uns und wir nehmen von uns. Sondern: Der Staat nimmt und der Staat gibt. Indem ein Dritter, der Staat Sozialleistungen gibt, wird der Staat als Manna wahrgenommen. Dass Menschen dafür arbeiten müssen, dass der Staat Sozialleistungen gewähren kann, wird nicht mehr wahrgenommen.
Umgekehrt wird aus Manna Erarbeitetes. Grund und Boden sind eigentlich Manna. Viele haben Grund und Boden bearbeitet. Aber niemand hat sich Grund und Boden erarbeitet. Man kann sich Grund und Boden nur kraft des Rechtes des Stärkeren aneignen. Der Staat müsste Grund und Boden nach dem Manna-Prinzip „Jedem das Gleiche!“ verteilen. Oder Grund und Boden gehören weiterhin dem Staat als Gemeinschaft aller und der Staat vergibt Nutzungsrechte nach Gemeinwohlerwägungen. Jeder neu geborene Staatsbürger müsste ein Stück Land erhalten. Nach seinem Tode wird es neu vergeben. Stattdessen überlassen Staaten Grund und Boden dem Markt und erwecken so den Anschein, als habe man sich Grund und Boden erarbeitet. Dabei hat man für Grund und Boden nur bezahlt – und zwar an jemanden, dessen Landnahme historisch auf Aneignung ohne Entgelt zurückgeht. Und so transportieren die meisten Staaten qua Erbrecht tatsächlich nur die räuberischen Landnahmen aus ihrer Geschichte in die Moderne. Der Mechanismus mag ökonomisch zweckmäßig sein. Vielleicht gibt es beim derzeitigen Stand der menschlichen Entwicklung auch keinen besseren Mechanismus. Gerecht aber ist er nicht. Jedenfalls nicht nach dem Manna-Prinzip.
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