Cui bono? – Wem nutzt die Rechtsunsicherheit?
Als Stratege der Rechtsunsicherheit sollten Sie sich von Zeit zu Zeit versichern, für wen Sie eigentlich arbeiten. Nicht dass Sie auf einmal alleine als der Bösewicht da stehen …
Vordergründig arbeiten Sie natürlich als Stratege der Rechtsunsicherheit für sich selbst. Wenn Sie Anwalt, Richter, Ministerialbürokrat oder Rechtswissenschaftler sind, dann sichert Rechtsunsicherheit Ihren Arbeitsplatz. „Für die Produzenten und Administratoren“ der Rechtsunsicherheit „ist dieser Zustand … durchaus befriedigend“. So schrieb Hans Magnus Enzensberger 2004 in seinem Essay Von den Vorzügen der Unverständlichkeit.
Aber sind wirklich nur die Produzenten und Administratoren der Rechtsunsicherheit daran interessiert, dieselbe aufrechtzuerhalten? Cui Bono? – Wem zum Vorteil gereicht Rechtsunsicherheit? Recht ist ein Herrschaftsinstrument. Dient es also den Herrschenden?
Wir erinnern uns: Rechtsunsicherheit fußt auf den Strategien der Verunklarung, der Vergrämung und der Überforderung. Die Strategie der Verunklarung bewirkt, dass man möglichst viel Raum für unterschiedliche Auffassungen darüber schafft, was im jeweiligen Einzelfall gilt. Wer aber kann die durch Verunklarung erzeugten Spielräume am besten für sich nutzen? Nun ja, derjenige, der ein Heer von Anwälten bezahlen kann, um die Spielräume auszuloten. Das sind Wirtschafts- und Finanzkonzerne, finanzstarke Unternehmen, aber auch die großen Privatvermögen. Nach dem Vierten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung verfügen die Haushalte in der unteren Hälfte der Verteilung nur über ein Prozent des gesamten Nettovermögens, während die vermögensstärksten zehn Prozent der Haushalte über die Hälfte des gesamten Nettovermögens verfügen und das mit steigender Tendenz. Das erklärt einiges über das Steuerrecht. Dazu Enzensberger:
„Die Unverständlichkeit des Rechts ist somit kein Fehler, der sich beheben ließe; sie ist beabsichtigt. Wie das Beispiel des Steuerrechts exemplarisch zeigt, darf Komplexität in dieser Sphäre auf keinen Fall reduziert, sie soll im Gegenteil derart gesteigert werden, daß selbst die Experten zu keiner eindeutigen Interpretation mehr fähig sind. (Vorschläge, das Steuersystem zu vereinfachen, haben, je vernünftiger sie sind, desto weniger Aussicht auf Verwirklichung.)“
Viel Raum für unterschiedliche Auffassungen darüber, was im jeweiligen Einzelfall gilt, nutzt auch der Entfaltung von Macht. Das betrifft insbesondere die, die bestimmen, welche Auffassung die richtige ist. Das Extrembeispiel ist das Bundesverfassungsgericht. Es ist konzipiert als der Hüter der Verfassung, hat sich jedoch entwickelt zum politischen Akteur und entscheidet politische Fragen, die zu entscheiden Sache des Gesetzgebers ist, anhand der unbestimmten Maßstäbe der Verfassung, indem es diese messerscharf konkretisiert – natürlich nach eigenen Präferenzen Die Richter am Bundesverfassungsgericht werden so zu den „Überpolitikern aus Karlsruhe“.
Die Strategie der Vergrämung nimmt dem juristischen Laien, manchmal sogar dem Profi, die Lust, sich mit der Rechtsordnung zu beschäftigen. Damit gerät der Inhalt des Rechts aus dem Blickfeld. Und wem nutzt das? Denen, die etwas zu verbergen haben. Da sind Politiker, die verbergen wollen, welche Interessen sie bedienen. Da sind die, die nicht wollen, dass offen sichtbar wird, wie ihre Interessen bedient werden. Die Strategie der Vergrämung dient der Verschleierung von Gesetz gewordenen Interessen. In Betracht kommen alle Interessen, die so organisiert sind, dass sie einen nennenswerten Einfluss auf Politiker ausüben können, und die gleichzeitig nicht ans Licht kommen sollen, weil sie bei offener und transparenter Diskussion nicht durchsetzungsfähig wären. So haben z.B. Agrarkonzerne ein großes Interesse daran, dass die Wirkungsmechanismen der für sie geltenden Regelungen von der breiten Bevölkerung nicht verstanden werden, weil sonst die Bevölkerung verstehen würde, was die Agrarkonzerne ihr zu essen vorsetzt und zu wessen Lasten diese Wirtschaftsweise geht.
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Enzensberger weist noch auf einen anderen Aspekt hin: „Der Zweck der fort-währenden Rentenreformen und ihrer Iteration ist nicht zuletzt darin zu sehen, daß niemand mehr in der Lage ist, seinen Rentenbescheid zu deuten und zu kapieren, wie er zustande kommt. Das eröffnet der Sozialpolitik dringend nötige Handlungsspielräume“. Bürgern, die es aufgegeben haben, zu versuchen, die Rechtsordnung oder auch nur das unmittelbar sie betreffende Recht zu verstehen, kann die Politik ein X für ein U vormachen.
Die Strategie der Überforderung schließlich bewirkt, dass der Rechtsunterworfene die für ihn geltenden Vorschriften gar nicht befolgen kann, wenn er irgendetwas zu Wege bringen will, und deshalb mehr oder weniger bewusst darauf verzichtet, bestimmte Rechtsvorschriften zu befolgen. Welchen Nutzen eine solche Strategie hat, ist nicht ganz klar. Man kann nur spekulieren: Wenn jeder Dreck am Stecken hat, dann hält es vielleicht doch die, die wenig Dreck am Stecken haben, davon ab, auf die mit dem vielen Dreck am Stecken zu zeigen.
Schlussappell
Wie auch immer. Unsere Reise durch das das Reich der rechtsstaatlichen Rechtsunsicherheit ist jetzt zu Ende. Sie haben die drei Strategien der Rechtsunsicherheit in Aktion erlebt. Sie haben gesehen, wie die Sprache des Rechts, der Aufbau von Normen und der Aufbau des Rechtssystems, wie die juristische Methodenlehre, die Inhalte des Rechts und die Fehlerregeln des Rechts genutzt werden können, um Rechtsunsicherheit zu verbreiten. Sie haben die Akteure des Rechtsstaates, die wesentlich an der Rechtsunsicherheit mitbasteln, die Politiker, die Beamten, die Richter, die Rechtsanwälte, aber auch die Profiteure der Rechtsunsicherheit kennegelernt. Sie wissen nun, welche Strategien Sie einsetzen können, um den ewigen Rechtsvereinfachern entgegentreten zu können. Und Sie haben erfahren, welche wunderbaren Möglichkeiten das Internet bietet. Jetzt steht Ihnen ein ganzes Arsenal von Mitteln und Mittelchen zur Verfügung, mit denen auch Sie den Rechtsstaat vor allzu viel Rechtssicherheit bewahren können. Sie sind herzlich eingeladen: Werden auch Sie Teil der großen Bewegung und stellen sich tapfer den ungläubigen Jüngern der Rechtssicherheit entgegen, die immer noch glauben, hier und da die Fahne der Klarheit, Wahrheit und Einfachheit der Rechtsordnung hochhalten zu müssen!
Und denken Sie daran: „Wir müssen der Wandel sein, den wir in der Welt zu sehen wünschen“ (Mahatma Gandhi). Viel Spaß!
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