Die Bundesjustizministerin hat am 24. Juni 2004 einen lesenswerten Vortrag, der nach dem Wechsel der Ministerin leider auf der Seite des Bundesjustizministeriums nicht mehr zu finden ist, in der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Thema bessere Gesetzgebung gehalten. Daraus seien einige Passagen zitiert:
Immer wieder hört man den Vorwurf: Die Gesetze sind schlecht. Wenn das zuträfe, wäre es ein vernichtendes Urteil, gerade auch für uns als Bundesjustizministerium, das ja bei allen Gesetzgebungsvorhaben die Rechtsprüfung vornimmt. Aber selbst wenn das Urteil nicht so pauschal zutrifft – einige Kritikpunkte sind sicher berechtigt, und es lohnt sich immer, über noch bessere Gesetze nachzudenken. …
Wer konkret mit Gesetzgebungsarbeit befasst ist, weiß: Jedes Gesetz spiegelt seine Entstehungsgeschichte wider. Da ist zunächst das Ringen um Konzepte und dann um Formulierungen. Wir bewegen uns im Feld des politischen Kräftemessens, mitunter bewegt uns der Blick auf die Medien. Gesetze sind geronnene Politik. Es gibt das Bemühen um Konsens in der Sache und um Sicherung der erforderlichen Mehrheiten, uns plagt der Zeitdruck und so weiter und so fort. All das zeigt: Rechtsnormen sind das Resultat eines demokratischen Prozesses. Gesetze werden eben nicht in der Studierstube oder am Grünen Tisch gemacht. Und in der Folge von alldem bedürfen sie teilweise der Berichtigungen und Nachbesserungen. Manchmal halten sie unter Umständen auch einer Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht nicht stand. Diese Erkenntnisse sind nicht neu. Aber trotzdem hat die Forderung nach besseren Gesetzen nach wie vor ihre Berechtigung.
Lassen Sie uns zunächst einmal näher hinschauen, woher die Unzufriedenheit rührt. Man stellt nämlich schnell fest, dass Rechtsvorschriften aus den unterschiedlichsten Gründen kritisiert werden. Viele sagen, dass es überhaupt zu viele Gesetze gibt. Bei durchschnittlich 500 bis 600 Gesetzen pro Legislaturperiode sicher nicht eine völlig aus der Luft gegriffene Kritik. Doch wir alle kennen das Phänomen: Abstrakt wird die Regelungsflut kritisiert, aber wenn es um individuelle Interessen geht, dann wird ein Gesetz bis ins kleinste Detail gefordert. … Anderen wiederum gefällt der Inhalt eines Gesetzes nicht und es wird dann vorschnell von einem „schlechten Gesetz“ geredet. Ein weiterer Kritikpunkt sind Probleme bei der Anwendung von Gesetzen.
… Ich denke, ein gutes Gesetz erkennt man zum Beispiel daran, dass es – obgleich häufig oder gar massenhaft angewendet – in der Praxis lange Zeit reibungslos funktioniert, ohne die Gerichte zu beschäftigen. Diese Herangehensweise mag Ihnen sehr justizorientiert erscheinen, aber ein solches Gesetz erfüllt ganz wichtige Voraussetzungen guter Gesetzgebung – es kommt einer Regelungsnotwendigkeit nach und wird akzeptiert: dadurch gewährleistet es Rechtsfrieden.
Woran erkennt man außerdem ein gutes Gesetz? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ein Gesetz besonders gut funktioniert, wenn es das Wesentliche auf verständliche Weise regelt. Ich spiele damit nicht unabsichtlich auf die Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichts an. Denn schon von Verfassung wegen sind alle wesentlichen rechtlichen Eingriffe zur Steuerung der gesellschaftlichen Entwicklung dem Gesetz vorbehalten. Wir sollten aber auch die andere Seite beachten: Der Gesetzgeber muss keinesfalls alles selber regeln, er muss durch ein Gesetz nur seine wichtigsten Vorgaben bestimmen. Er sollte immer in Betracht ziehen, dass weitere Ausgestaltungen möglich sind – durch die Exekutive in Form von Rechtsverordnungen oder Verwaltungsvorschriften oder durch die Rechtsprechung, die beispielsweise oft Generalklauseln auszufüllen hat. Und der Gesetzgeber kann auch ganze Bereiche der Selbstregulierung überlassen, wenn die betroffenen Kreise die Angelegenheit selbst am besten kennen und in der Gruppe für Akzeptanz sorgen. Alles in allem: Es ist eine Beschränkung auf das Wesentliche geboten. Denn auch das Verhältnis der drei Gewalten zueinander beeinflusst die Entstehung und Anwendung von Gesetzen mitunter stark. Je nachdem, wie gut ausbalanciert das Verhältnis zwischen Exekutive, Legislative und Judikative ist, desto weniger tendieren Gesetze dazu, „übergriffig“ zu werden und desto eher sind die beteiligten Akteure bereit, die Handlungs- und Ermessensspielräume des jeweils anderen zu respektieren. Unterm Strich klappt es also am besten, wenn sich alle in der gebotenen Weise selbst beschränken: Der Gesetzgeber auf seine Aufgabe, abstrakt-generelle Regelungen zu schaffen, die Verwaltung auf die konkret-individuelle Anwendung im Rahmen der Gesetze und die Rechtsprechung hauptsächlich darauf, Rechtsverstöße zu korrigieren.
Was in ein Gesetz gehört, bestimmt sich nach dem jeweils zugrundeliegenden Konzept. Das sollte klar sein und deutlich alle Eckpunkte enthalten, mit denen das politisch vorgegebene Ziel erreicht werden soll. An diesem Konzept ist dann jede Einzelregelung zu messen. Das Konzept des Regelungsvorhabens ist demnach das Fundament des Gesetzes. Hierüber muss Klarheit zwischen allen Beteiligten erzielt werden. Ich meine, dass hier ein Grund für manch in sich unstimmiges Gesetz zu finden ist – die politischen Strukturen führen oft dazu, dass in einem späten Stadium Sachverhalte in einem Gesetz geregelt werden, die nach dem ursprünglichen Konzept nicht vorgesehen waren. … Für ein gutes Gesetz möchte ich … als Voraussetzung festhalten: In jedem Verfahrensstadium muss vor allem Klarheit über das Konzept herrschen. Und das Konzept sollte von vornherein ausreichend Platz für Kompromisse lassen.
Es gibt diesen auf den ersten Blick so einleuchtenden Spruch: Der Gesetzgeber soll denken wie ein Philosoph und reden wie ein Bauer. Das heißt: Die zweite Komponente für ein gutes Gesetz ist die Verständlichkeit. Sie ist eine Grundvoraussetzung für die Akzeptanz von Recht überhaupt. Auf den zweiten Blick heißt das aber: Die speziellen Eigenarten von Rechtsregeln ergeben sich aus ihrer Funktion. Verständlichkeit in Gesetzen ist daher nicht nur eine Frage der Sprache, sondern vielmehr auch die Frage danach, ob die Adressaten das Gesetz als Regelung ihrer Verhältnisse erkennen können. Sie müssen erfassen können, wer was tun soll, darf oder muss. Und was das anbelangt, sollten wir realistisch betrachten, an wen sich Gesetze richten. Es sind in der großen Mehrheit spezielle Gruppen, die auch spezielle Regelungsbedürfnisse und Regelungsinteressen haben. Dies führt dazu, dass Gesetze dazu tendieren, hermetisch zu sein. In vielen Fällen ist das auch gar nicht schädlich. Die Lebenssachverhalte sind komplex – das erfordert entsprechende Regelungen. Wir müssen daher nicht anstreben, dass jedes Spezialgesetz von allen verstanden wird. Umgekehrt gilt aber die Redensart vom Philosophen und vom Bauern auf jeden Fall, wenn sich Gesetze an alle Bürgerinnen und Bürger richten… .
… Wenn wir heute über gute Gesetzgebung reden, dann betrifft das vor allem die Änderungsgesetzgebung. Denn unsere Rechtsordnung wird nicht mehr aufgebaut, sondern sie wird ausgebaut, ergänzt oder verändert. Das bedeutet: Fragen der Transparenz der Änderung und der richtigen Einordnung neuer Normen in das Gefüge des geltenden Rechts erhalten ganz entscheidende Bedeutung. In der Diskussion um die Inhalte gerät dies allerdings zu häufig in den Hintergrund. Wenn neue Normen neben schon bestehenden Gesetzen geschaffen werden, wenn sie innerhalb eines Gesetzes an einer Stelle ein- oder angefügt werden, wo sie keiner vermutet, oder wenn ein gerade geändertes Gesetz nach kurzer Zeit schon wieder geändert werden muss, dann sind dies Paradebeispiele für schlechte Gesetzgebung. Denn all dies beeinträchtigt sowohl die Verständlichkeit als auch die Akzeptanz der Vorschriften. Meine Forderung lautet daher: Rechtsänderungen müssen möglichst transparent sein – für die Abgeordneten, die darüber entscheiden genauso wie für die Öffentlichkeit und die Normadressaten".
2.3.2010/5.5.2012
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