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Nachdem sich die die Reihe „Die Strategien der Rechtsunsicherheit“ bislang vor allem mit formalen Aspekten des Rechts, zuletzt mit dem Aufbau des Rechtssystems, beschäftigt hat, steuern wir langsam auf die Inhalte des Rechts zu. Vorher aber machen wir noch halt an einer besonderen Station, nämlich der Gesetzesänderung. Wenn ich Sie überzeugt habe und Sie zum glühenden Verfechter der Strategien der Rechtsunsicherheit geworden sind, dann werden Sie sich freuen zu hören, dass die Änderung eines Gesetzes zusätzliche Möglichkeiten bietet, diese Strategien einzusetzen.
Wie wird ein Gesetz geändert?
Es gibt rechtsetzungstechnisch grundsätzlich drei Möglichkeiten, ein Gesetz – das sogenannte Stammgesetz -zu ändern:
- Das Ablösungsgesetz: Man schreibt einfach ein komplett neues Gesetz.
- Die Novelle: Sie ändern nur eine oder ein paar Vorschriften in einem Gesetz.
- Das Mantelgesetz: Sie ändern in einem Gesetz eine Vielzahl von Vorschriften in verschiedenen Gesetzen.
Das Ablösungsgesetz bietet naturgemäß keine Möglichkeiten, zur Rechtsunsicherheit beizutragen, die Sie nicht auch schon bei der Formulierung eines neuen Gesetzes haben. Viel mehr Möglichkeiten bieten sich bei der Novelle und dem Mantelgesetz.
Step 12: Unverständliche Änderungsbefehle
Der erste Grund, warum Novellen und Mantelgesetze ein Geschenk für die Rechtsunsicherheit sind, ist, dass ein Änderungsgesetz aus sich heraus nicht verständlich ist. Da werden Begriffe in irgendwelchen Sätzen und Absätzen ersetzt durch andere, da wird etwas hinzugefügt oder etwas gestrichen. Dem Gesetzestext des Änderungsgesetzes allein können Sie nicht entnehmen, was im Stammgesetz geändert worden ist. Sie müssen vielmehr mühsam den letzten Textstand des Stammgesetzes zur Hand nehmen und dann anhand der Änderungsbefehle durchgehen, was wo wie geändert worden ist. Das macht besonders viel Spaß, wenn das Stammgesetz schon mehrmals geändert worden ist und sie keine Textfassung haben, die den letzten Stand wiedergibt. Und der Spaß steigt mit der Anzahl der Änderungen.
Falls Sie noch nicht gesehen haben, wie ein Gesetz in einer Novelle oder in einem Mantelgesetz geändert wird, so sieht so etwas aus:
„Das Fünfte Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung – (Artikel 1 des Gesetzes vom 20. Dezember 1988, BGBl. I S. 2477, 2482), das zuletzt durch Artikel 1a des Gesetzes vom 21. Dezember 2015 (BGBl. I S. 2408) geändert worden ist, wird wie folgt geändert:
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- In § 22a Absatz 1 Satz 1 werden die Wörter „einer Pflegestufe” durch die Wörter „einem Pflegegrad” ersetzt und werden die Wörter „oder dauerhaft erheblich in ihrer Alltagskompetenz nach § 45a des Elften Buches eingeschränkt sind” gestrichen.
- § 33 wird wie folgt geändert:
- a) Dem Absatz 1 wird folgender Satz angefügt: „§ 18 Absatz 6a des Elften Buches ist zu beachten.”
- b) Dem Absatz 5a wird folgender Satz angefügt: „§ 18 Absatz 6a des Elften Buches ist zu beachten.”
- § 37 Absatz 2 wird wie folgt geändert:
- a) In Satz 1 wird das Semikolon und werden die Wörter „der Anspruch umfasst verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen auch in den Fällen, in denen dieser Hilfebedarf bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach den §§ 14 und 15 des Elften Buches zu berücksichtigen ist” gestrichen.
- b) In Satz 6 werden nach dem Wort „Pflegebedürftigkeit” die Wörter „mit mindestens Pflegegrad 2″ eingefügt.
- c) Absatz 6 Satz 2 wird gestrichen.
- In § 87 Absatz 2i Satz 1 werden die Wörter „einer Pflegestufe” durch die Wörter „einem Pflegegrad” ersetzt und werden die Wörter „oder dauerhaft erheblich in ihrer Alltagskompetenz nach § 45a des Elften Buches eingeschränkt sind” gestrichen.
- Dem § 252 Absatz 2a wird folgender Satz angefügt:
„Für den Beitragsabzug gilt § 28g Satz 1 und 2 des Vierten Buches entsprechend.”
Wichtig ist, dass Synopsen, die die alte und die neue Rechtslage gegenüberstellen, nur bestimmten Kreisen zugänglich sind, nicht aber dem Bürger und besser auch nicht den Parlamentariern, die über die Gesetzesänderung beschließen sollen. Die können sich ja bei Interesse selbst eine Synopse machen.
Step 13: Steigerung der Häufigkeit von Rechtsänderungen
Der Verunsicherungseffekt von Gesetzesänderungen kann verstärkt werden, indem man das Stammgesetz besonders häufig novelliert. Herausragend ist es, wenn man ein Stammgesetz in einer Fassung ändert, die noch gar nicht in Kraft getreten ist, wenn man also eine noch nicht in Kraft getretene Änderung ändert. Dann hat man das Stammgesetz, ein Änderungsgesetz, vielleicht mit einem gestaffelten Inkrafttreten von Vorschriften, und jetzt die Änderung des noch nicht wirksam geänderten Stammgesetzes in der Fassung der Änderungen, die natürlich frühestens dann wirksam werden können, wenn die noch nicht in-Kraft-getretenen Änderungen wirksam geworden sind. Das ist eine wertvolle Quelle nicht nur für Fehler des Rechtsanwenders, sondern auch des Gesetzgebers.
Häufige Änderungen haben noch einen weiteren Effekt: Der Gesetzesanwender kann sich nicht an eine bestimmte Fassung gewöhnen. Das hält flexibel und jung! Anstatt in gewohnten Bahnen zu verharren, müssen Behördenapparate ständig neu ausgerichtet werden. Kommentare müssen die Rechtsentwicklung ständig neu nachzeichnen. Die Rechtsprechung muss sich neu justieren. Und der Bürger muss sein Handeln ständig neu orientieren. Und wehe, er übersieht dabei irgendetwas! Es ist im Grunde so, wie wenn in Ihrem Supermarkt das Sortiment umstrukturiert worden ist. Sie suchen die Eier am falschen Ort und fühlen sich desorientiert.
Im Übrigen sollte man das menschliche Beharrungsvermögen nicht unterschätzen. Es ist die Ursache dafür, dass Kommentatoren, Behörden, Richter und Rechtsanwälte versuchen, trotz Rechtsänderung das neue Recht so auszulegen, dass das Ergebnis das gleiche wie bei der Anwendung des alten Rechts ist.
Step 14: Verstecken in Mantelgesetzen
Mantelgesetze ermöglichen es rechtsetzungstechnisch, durch ein Gesetz eine Vielzahl unterschiedlicher Gesetze zu ändern. Es handelt sich im Grunde um eine Zusammenfassung von Einzelnovellen in einem Gesetz. Mantelgesetze werden manchmal auch Artikelgesetze genannt, weil das Mantelgesetz in Artikel unterteilt ist und in jedem Artikel die Änderungen eines bestimmten Gesetzes zusammengefasst sind. Das ist rein logisch durchaus sinnvoll, wenn die Änderungen in einem Sachzusammenhang stehen, erschwert es aber, bestimmte Änderungen zu lokalisieren und kann dazu genutzt werden, auch mal die eine oder andere kleine Neuerung ohne viel Diskussion durch das Parlament zu bringen. Besonders probat ist es in diesem Zusammenhang, wenn ein Mantelgesetz ein allgemeines Thema hat, z.B. „Zweites Gesetz zur Rechtsvereinfachung und Entbürokratisierung“, und man dann unter dem Deckmantel der Vereinfachung ein paar äußerst wirksame inhaltliche Änderungen in einem Rechtsgebiet vornimmt oder, was häufiger ist, ein paar Sachen regelt, die man schon immer mal regeln wollte.
Weiter geht es mit die Die Auslegungsregeln – Freiraum für kreative Rechtsanwendung und anything goes.
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