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Die Strategien der Rechtsunsicherheit – Teil 13: Die Anwaltschaft als Profiteur der Rechtsunsicherheit

Während die Richter als Katalysatoren der Rechtsunsicherheit wirken, sind Rechtsanwälte zwar einerseits Opfer, andererseits aber vor allem Nutznießer der allgemeinen rechtsstaatlichen Verunsicherung.

Rechtsunsicherheit als Existenzgrundlage der Anwaltschaft

Die Existenz des gesamten Berufsstandes der Rechtsanwälte hängt davon ab, dass das Rechtssystem nicht so verständlich ist, dass die Bürger ihre Rechtsangelegenheiten und Prozesse alle selbst erledigen könnten. Wäre das der Fall, dann hätten Anwälte nur noch ihre Existenzberechtigung als unparteiliche Berater. Denn, das gilt übrigens im besonderen Maße für Juristen: In eigenen Rechtsangelegenheiten ist man blind. Zumindest ist der Blick oft so getrübt, dass man auch das auf der Hand liegende, aber nicht zum eigenen Vorteil gereichende gerne übersieht.

Rechtsunsicherheit als Grundlage für die Prozessführung

Aber auch unabhängig davon haben Rechtsanwälte ein Interesse an Rechtsunsicherheit. Denn ohne Rechtsunsicherheit wäre es überaus selten, dass überhaupt Prozesse geführt werden. Würde man nach anwaltlicher Beratung von vorneherein wissen, ob man einen Prozess gewinnt oder verliert, würde man Prozesse gar nicht erst führen, sondern davon Abstand nehmen, das Geforderte leisten oder sich einigen. Einen Prozess zu führen, den man mit Sicherheit verliert, wäre nach rationalem Kalkül sinnlos. Es sei denn, man verfolgt andere Zwecke mit der Prozessführung als den Sieg in der Sache, z.B. Schikane oder Leistungsverschleppung.

Step 41: Aktivierung des Anything goes

Nehmen wir einen guten Rechtsanwalt. Was das ist, dazu finden Sie unter Guter Rechtsanwalt – Schlechter Rechtsanwalt einiges. Um es einfach zu machen, halten wir hier nur fest, dass ein guter Rechtsanwalt einer ist, der in die Tatsachenlage eingearbeitet ist, Experte auf dem entsprechenden Rechtsgebiet ist und sich engagiert. Wenn nach seiner Einschätzung der Fall klar zu gewinnen ist, dann wird ein solcher Anwalt den Sachverhalt vortragen, die entsprechenden Argumente vorbringen und mit Rechtsprechung und Literatur unterfüttern. Es bleibt ihm dann, die schlechten Argumente der Gegenseite zu widerlegen. Sind die Erfolgsaussichten dagegen gering oder ist die Sache eigentlich aussichtslos, dann wird ein solcher Anwalt zunächst von der Prozessführung abraten. Wenn der Mandant dann trotzdem den Prozess führen will, wird der Anwalt das unter Die Auslegungsregeln und Die Inhalte einer chaotisierungsfreudigen Rechtsordnung geschilderte Arsenal der Waffen der kreativen Rechtsfindung abfeuern. Und wenn der Anwalt seine Sache gut macht, das Anything goes der Rechtsprechung beflügeln. Hat der Anwalt Glück, hat der Mandant auch Glück und der Anwalt dringt bei Gericht mit seinen Argumenten letztlich durch.

Anwälte solchen Kalibers sind sehr interessiert daran, dass ein Anything goes in ihrem speziellen Rechtsgebiet möglich ist. Da bietet es sich an, dass sie, wenn sie literarisch begabt sind, auch in der juristischen Fachliteratur äußern, indem sie in Aufsätzen und Kommentaren neue Theorien, Auslegungen und Differenzierungen vorstellen. Ziehen einige Spezialisten mit, kann das den Boden für manche kreative Rechtsfindung bereiten.

Step 42: Anything goes als Entschuldigungsgrund

Schlechte Anwälte tragen zur Vergrämung der Bevölkerung von der Rechtsordnung bei. Schlechte Anwälte sind solche, die sich in den Sachverhalt nicht eingearbeitet haben, die die Rechtslage nicht wirklich überblicken oder die ohne Engagement an die Sache gehen. Solche Anwälte brauchen die allgemeine rechtsstaatliche Verunsicherung in anderer Weise. Sie feuern nach der Pusteblumentaktik im Prozess mehr oder weniger gute Argumente ab und erklären dem Mandanten, wenn er gewinnt, dass sei sein – des Anwalts – Verdienst. Verliert er, sind die Gerichte schuld. Dort herrsche halt Anything goes. Die Richter hätten einen schlechten Tag gehabt. Mandanten, die das nicht durchschauen, fühlen sich in ihrem allgemeinen Weltbild bestätigt: „Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand.“

Step 43: Den Berufsstand in Verruf bringen

Anwälte haben in fast allen Staaten einen schlechten Ruf. Davon zeugen viele Redewendungen und Zitate. Heinriche Heine sprach von Bratenwendern: „Advokaten, die Bratenwender der Gesetze, die so lange die Gesetze wenden und anwenden, bis ein Braten für sie abfällt“. Auch Friedrich Wilhelm I. war kein Fan von Anwälten: “Wir ordnen und befehlen hiermit allen Ernstes, dass die Advocati wollene schwarze Mäntel, welche bis unter das Knie gehen, unserer Verordnung gemäß zu tragen haben, damit man die Spitzbuben schon von weitem erkennt“.

Der schlechte Ruf der Anwälte färbt auf die gesamte Rechtsordnung ab. Das ist Element der Vergrämungsstrategie. Der schlechte Ruf rührt nicht nur daher, dass Rechtsanwälte böse Buben vertreten müssen. Einer der Gründe für den schlechten Ruf liegt geradezu in der Natur der anwaltlichen Tätigkeit: Anwälte müssen Meinungen vertreten, die nicht ihre eigenen sind. Das wird gemeinhin als charakterlos empfunden. Besonders negativ schlägt die Austauschbarkeit der Meinungen zu Buche. Was soll man von einem Anwalt halten, der gestern noch vor Gericht voller Verve das Gegenteil von dem verfochten hat, was er heute im Brustton der Überzeugung vor demselben Gericht, aber in anderer Sache, hinausposaunt? Der Anwalt wird so zum Luftikus, Aber kann man von Anwälten erwarten, dass sie nur Sachen vertreten, von denen sie rechtlich voll überzeugt sind? Dann würden viele Bürger in vielen Rechtsangelegenheiten gar keinen Anwalt finden, der sie vertritt. Kann man von den Anwälten erwarten, dass sie gegen ihren Mandanten argumentieren? Nein. Damit würden sie gegen ihre Berufspflichten verstoßen (siehe Guter Rechtsanwalt –Schlechter Rechtsanwalt, dort unter Loyalität).

Besonderen Gefallen finden Strategen der Vergrämung allerdings an den bösen unter den Anwälten, die mit unehrenhaften Methoden arbeiten. Was soll man etwa von einem Anwalt halten, der erst eine Gemeinde zu einem städtebaulichen Vertrag überredet, damit diese im Interesse seines Mandanten einen Bebauungsplan erlässt, diesen städtebaulichen Vertrag eigenhändig entwirft und, kaum ist der Bebauungsplan festgesetzt, sich auf die Nichtigkeit des Vertrages beruft? Was soll man von einem Anwalt halten, der aussichtslose Rechtsmittel einlegt, um noch ein paar Euro zu verdienen? Was soll man von einem Anwalt halten, der nach Einigung über einen 250 seitigen Vertragstext der Gegenseite einen Vertragstext mit vierzehn inhaltlichen Änderungen zur Unterzeichnung übersendet, ohne die Änderungen offenzulegen?

Step 44: Komplexe Vertragswerke

Damit wären wir beim Thema Verträge. Viele Verträge werden mit anwaltlicher Hilfe aufgesetzt. Dafür gibt es sogar spezialisierte Anwälte, die sogenannten Kautelarjuristen. Jean Paul Getty hat einmal gesagt: „Wenn man einem Menschen vertrauen kann, benötigt man keinen Vertrag. Wenn man ihm nicht vertrauen kann, ist ein Vertrag nutzlos“. Offenbar scheint das Vertrauen unter den Vertragspartnern heutzutage nicht besonders groß zu sein. Jedenfalls neigen die Kautelaranwälte dazu, ihre Mandanten gegen alle Eventualitäten abzusichern und alle nur möglichen Vorteile herauszuschinden. Wo immer von der für den Vertrag geltenden gesetzlichen Regelung abgewichen werden kann, werden eigene Vertragsklauseln entwickelt. Von der Rechtsprechung für ungültig gehaltene Klauseln werden durch Klauseln ersetzt, die das gerade noch Gültige herausholen. Das führt zu immer länger und komplizierter werdenden Vertragswerken, die die Vertragsparteien kaum mehr verstehen können und die Auslegungsprobleme und Gültigkeitsfragen hervorrufen, die natürlich nur durch spezialisierte Rechtsanwälte geklärt werden können.

Step 45: Anwälte als Verfasser von Gesetzentwürfen

Den Gipfel anwaltlicher Mitwirkung an der Produktion von Rechtsunsicherheit erreichen Anwaltskanzleien, die an Gesetzgebungsvorhaben mitwirken. Da gibt es zwei Varianten. Die eine Variante ist, dass ein Ministerium eine Anwaltskanzlei mit der Erstellung eines Gesetzentwurfs beauftragt. Das machen Ministerien manchmal, weil sie ihre eigenen Leute für unfähig oder unwillig halten. Offiziell wird das mit fehlenden Arbeitskapazitäten oder fehlendem ministerialen Sachverstand begründet. Wenn die Fachleute in einem Ministerium herausgehalten werden sollen, kann man sicher sein, dass es sich um irgendein krummes Ding handelt, das geregelt werden soll. Und wenn die Anwaltskanzlei über den notwendigen Sachverstand verfügt, dann deshalb, weil sie Mandantschaft mit entsprechenden Interessen vertritt. Damit nicht allzu offensichtlich wird, zu wessen Gunsten geregelt wird, wird sich die Anwaltskanzlei schon den einen oder anderen Verschleierungsmechanismus einfallen lassen, wozu mit Sicherheit komplexe Regelungen gehören werden, bei denen die Tücke im Detail liegt.

Die andere Variante ist die, dass im Ministerium der Entwurf eines Lobbyverbandes abgeschrieben wird. Dieser hat den Entwurf durch eine ihm verbundene Anwaltsfirma erstellen lassen. Das Ergebnis wird im Sinne eines Strategen der Rechtsunsicherheit gewiss kaum weniger erfreulich sein, als in der ersten Variante.

Erfreulich ist, dass beide Varianten anwaltlicher Mitwirkung an Gesetzgebungsvorhaben rechtlich und staatstheoretisch völlig unbedenklich sind, denn: „Ohne Lobbyisten könnte Demokratie vermutlich gar nicht funktionieren. […] Es ist kaum denkbar, dass die Politik ohne die Mitarbeit der Lobbyisten auch nur ein einziges vernünftiges Gesetz zustande bringen würde, das hinterher praktikabel wäre“ (Carl Graf Hohenthal).

Weiter geht es mit Die Strategien der Rechtsunsicherheit – Teil 14: Die Verwaltung als die große Vergrämerin des Rechtsstaates – Komplexes Recht in der Massenverwaltung: Trash in und noch mehr trash out!

 

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