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Die Strategien der Rechtsunsicherheit – Teil 6: Die Auslegungsregeln

Nachdem Sie auf der letzten Station der Reise durch die Strategien der Rechtsunsicherheit die besonderen Möglichkeiten der Verunsicherung kennengelernt haben, die Änderungen von Gesetzen zu bieten haben, erreichen wir heute gewissermaßen einen Vorposten des Archipels der verunsichernden Inhalte. Wie sollte eine Rechtsordnung inhaltlich ausgestattet sein, damit sie möglichst fehleranfällig und damit rechtsunsicher ist? Von zentraler Bedeutung sind die Auslegungsregeln, also die Regeln darüber, wie man Gesetze auszulegen hat.

Freiraum für kreative Rechtsanwendung

Das Kennzeichen eines demokratischen Rechtsstaates ist die strikte Bindung an Recht und Gesetz. Um diese im Sinne der Verunklarungsstrategie zu lockern, sollte man Auslegungsregeln anwenden, die es ermöglichen, dem Rechtsanwender möglichst viel Freiheit bei der Auslegung des Rechts für eigene Ideen zu geben. Das ist die Voraussetzung für kreative Rechtsanwendung und Basis eines anything goes in der Rechtsprechung.

Nur wenn die Verunklarungsstrategie bereits bei der Formulierung eines Gesetzes konsequent angewendet worden ist, kann die Auslegung einer Norm anhand des Wortsinns, die sogenannte grammatische Auslegung, zu unklaren Ergebnissen führen. Da das nicht immer der Fall ist, sollte man weitere Auslegungsmethoden neben die grammatische Auslegung stellen, mit denen man auch bei klarem Wortlaut zu mit dem Wortlaut kaum vereinbaren Ergebnissen kommen kann.

Step 15: Die systematische Auslegung einer Norm

Die systematische Auslegung behauptet, dass man aus dem Zusammenhang einer Norm mit anderen Normen Erkenntnisse über den Inhalt der Norm gewinnen kann. Diese Auslegungsmethode kann man damit begründen, dass die gesamte Rechtsordnung widerspruchsfrei aufgebaut sein müsse. Man behauptet einfach, dass diese Wunschvorstellung theoretisierender Juristen Wirklichkeit sei. Und schon kann ein Heer von Rechtswissenschaftlern sich damit beschäftigen, ein System zusammenzubasteln, in dem auch die widersprüchlichsten Normen gemeinsam ihren Platz finden. Und haben sie es endlich geschafft, fügt man eine damit unvereinbare Norm hinzu und schon kann wieder neu gebastelt werden.

Dann würzt man das Ganze noch mit einigen unsinnigen formalen Regeln, was denn aus einer bestimmten Systematik folge, die die Vielfalt möglicher Auslegungen erheblich erweitern. Z.B. die Regel, dass Ausnahmen eng auszulegen seien. Das Überzeugende an einer solchen Regel ist, dass man mit ihr alles Mögliche begründen kann, indem man einfach nur den Bezugsrahmen ändert. Nehmen wir an, die Norm lautet: Wenn du ein Auto hast, dann wasche es, es sei denn, es regnet. Jetzt nieselt es und der Jurist weiß nicht, ob Niesel Regen ist. Dann kann er argumentieren, dass Regen eine Ausnahme von der Pflicht zum Autowaschen ist und deshalb eng auszulegen ist. Also ist Niesel kein Regen. Man kann die Sache aber auch so aufziehen: Die Regel ist „Wasche (egal was) nicht!“. Davon macht die Waschpflicht für Autos eine Ausnahme und deshalb sei diese Waschpflicht eng auszulegen. Das Tatbestandsmerkmal „wenn es nicht regnet“ stellt dann lediglich für einen Teil der von der Waschpflicht für Autos erfassten Fälle, die Regel wieder her. Dann ist Niesel Regen.

Step 16: Die historische Auslegung

Geeignet zur Verunklarung ist auch die sogenannte historische Auslegung. Sie dient dazu, den Willen des Normsetzers zu ermitteln. Diese Auslegungsmethode ist nicht nur dann geeignet, für Verwirrung zu sorgen, wenn der ermittelte Willen des Gesetzgebers nicht dem Wortlaut des Gesetzes entspricht. Diese Auslegungsmethode setzt vielmehr daran an, dass sie so tut, als sei der Gesetzgeber eine Person, deren Willen man ermittelt. Da aber an der Gesetzgebung eine Vielzahl von Personen, insbesondere Mandatsträger, und oft auch verschiedene staatliche Organe beteiligt sind, gibt es im Laufe eines Gesetzgebungsverfahrens auch die unterschiedlichsten Äußerungen dazu, was mit dem Gesetz eigentlich bezweckt werden soll, oder Äußerungen aus denen man dazu etwas ableiten kann. Man nehme also irgendeine Äußerung aus dem Gesetzgebungsverfahren, die einem gerade in den Kram passt, und definiere diese als maßgeblich für den Willen des Gesetzgebers. Irgendetwas Passendes findet sich immer. Andere, damit unvereinbare  Äußerungen ignoriere man oder schiebe sie argumentativ beiseite.

Step 17: Das Highlight: Die teleologische Auslegung

Genügt das nicht, dann füge man noch das auslegungstechnische Highlight hinzu: Die teleologische Auslegung, die nach dem Sinn des Gesetzes sucht. Dieser besteht nicht in dem Willen des historischen Gesetzgebers, nicht in dem subjektiven Willen der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten, sondern in etwas, was es gar nicht gibt, in dem objektiven Sinn eines Gesetzes. Ein berühmter Rechtsphilosoph, Gustav Radbruch, liefert dazu die Vorlage: „Der Ausleger kann das Gesetz besser verstehen als seine Schöpfer es verstanden haben, das Gesetz kann klüger sein als seine Verfasser – es muss sogar klüger sein als seine Verfasser“.

In einem Fall ging es um die Frage, ob eine elektrische Eisenbahn – anders als eine Pferdeisenbahn – strafrechtlich wie eine dampfgetriebene Eisenbahn zu behandeln ist. Dazu hat das Reichsgericht in seinem Urteil vom 17. September 1885 ‑ 1643/85 ‑ mustergültig ausgeführt: „Völlig unrichtig ist die Behauptung, dass das Gesetz nur auf die von dem Gesetzgeber direkt erwogenen Fälle angewendet werden dürfe, der Gesetzgeber vermag nicht zum voraus die reiche Mannigfaltigkeit des Lebens zu fixieren, das Gesetz gilt für alle Fälle, auf welche es nach richtiger Auslegung paßt, mag der Gesetzgeber an dieselben gedacht haben oder nicht und es ist in letzterem Falle keine analoge, sondern eine direkte Anwendung des Gesetzes …“.

So kann methodisch sauber endlich gelingen, was des fortgeschrittenen Gesetzesinterpreten liebstes Handwerkszeug ist: Lege das Gesetz so aus, dass das gewünschte Ergebnis herauskommt!

Step 18: Unklare Rangfolge der Auslegungsmethoden

Um zu verhindern, dass man deshalb zu vorhersehbaren Auslegungsergebnissen kommt, weil man die verschiedenen Auslegungsmethoden in eine bestimmte Rangfolge stellt, gibt man für die Rangfolge entweder überhaupt keine allgemeine Regel an oder stellt alle Auslegungsmethoden unter ein Ziel: Die Ermittlung des objektiven Gesetzeszweckes. Beide Methoden führen zum selben Ziel: Es bleibt dem Rechtsanwender ein weiter Spielraum, wie er eine Vorschrift auslegt.

Step 19: Analogie und teleologische Reduktion

Dem fortgeschrittenen Adepten der Rechtsunsicherheit  stehen weitere methodische Kunstgriffe zur Verfügung, mit deren Hilfe man den Anwendungsbereich einer Rechtsvorschrift dem gewünschten Rechtsanwendungsziel anpassen kann:

Da gibt es zum Beispiel die teleologische Reduktion. Sie besteht darin, dass man vom Wortlaut einer Vorschrift erfasste Sachverhalte aus dem Anwendungsbereich der Vorschrift herausnimmt, diesen also reduziert, indem man behauptet, die Anwendung der Vorschrift auf diese Sachverhalte entspräche nicht dem – objektiven oder subjektiven – Sinn des Gesetzes.

Die umgekehrte Methode ist die analoge Anwendung einer Vorschrift auf einen Fall, auf den sie ihrem Wortlaut nach nicht angewendet werden kann. Man behauptet, die Interessenlage wäre dieselbe und hätte der Gesetzgeber um diesen Fall gewusst, hätte er die Norm so formuliert, dass sie auch auf diesen Fall anwendbar wäre. Den Plan des Gesetzgebers definiert natürlich der Rechtsanwender. Der Gesetzgeber hat sich ja regelmäßig zu dem von ihm nicht gesehenen Fall nicht geäußert.

Step 20: Fehlende Korrekturmöglichkeit des Gesetzgebers

Um sicher zu gehen, dass die Gemeinschaft der ungebremsten Gesetzesinterpreten ihr Werk ungehindert verrichten kann, sollte der Gesetzgeber keine Möglichkeit haben, von ihm nicht gewollte Gesetzesinterpretationen aus dem Weg zu räumen. Das muss man ihm gar nicht verbieten. In einem Rechtsstaat ist es gesetzgebungstechnisch schwierig, für den Gesetzgeber auf ungewollte Auslegungen seiner Vorschriften zu reagieren. Denn das Werkzeug des Gesetzgebers ist der Wortlaut. Und wenn er alles gesagt hat, so wie er es gewollt hat, was soll der Gesetzgeber dann tun?

Nehmen wir an, ein Gesetz regelt: „Hunde dürfen nicht in einen Käfig gesperrt werden.“ Und ein munterer Gesetzesausleger kommt auf die Idee, dass das aber nicht für Pudel gelte, was soll der Gesetzgeber dann machen? Soll er regeln „Hunde dürfen nicht in einen Käfig gesperrt werden. Das gilt auch für Pudel.“? Man würde denken, der Gesetzgeber sei nicht ganz bei Sinnen. Der erfahrene Gesetzesinterpret allerdings würde vielleicht darüber nachdenken, warum dieser Zusatz nicht auch Labradore oder Schäferhunde enthält.

Der Gesetzgeber könnte natürlich auch Normanwendungsgesetze erlassen, z.B. derart: „§ Soundso des Hundesgesetzes darf nicht so ausgelegt werden, dass Pudel nicht erfasst werden.“ Aber will man tatsächlich eine derartig irre Rechtsordnung?

Nein. Stattdessen nutzt man die Schwäche des Gesetzgebers, um zu bestätigen, dass der Gesetzgeber auch eine vom Wortlaut einer Vorschrift nicht vorgezeichnete Auslegung auch noch mitträgt. Man behauptet einfach, der Gesetzgeber beobachte die Rechtsentwicklung und da sei ihm natürlich die in Frage stehende Auslegung der Vorschrift nicht entgangen. Wenn er damit nicht einverstanden sei, hätte er sie ja ändern können.

 

Weiter geht es mit Die Inhalte einer chaotisierungsfreundlichen Rechtsordnung – Über Regeln und Ausnahmen, unmögliche Voraussetzungen, Beteiligungsrechte und Megaprinzipien.

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