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Die Strategien der Rechtsunsicherheit – Teil 2: Die Sprache des Rechts

Nachdem wir im ersten Beitrag “Auftakt und die drei Strategien” unsere Reise zu den Quellen der Rechtsunsicherheit damit begonnen haben, die drei Strategien der Rechtsunsicherheit kennenzulernen, geht es nun um deren Anwendung. Dazu werden wir uns anschauen, wie Rechtsvorschriften formuliert werden, und erkunden, wie wir die Sprache des Rechts dazu nutzen können, Rechtsunsicherheit zu erzeugen.

Der Anfang aller Rechtsunsicherheit und Step 1: Vom einfachen zum konditionierten Befehl

Am Anfang ist alles ganz einfach. Eine Rechtsordnung besteht aus Befehlen. Ein einfacher Befehl ist: „Sitz!“ So einen Befehl geben Sie Ihrem Hund. Ein Mensch wird ihn kaum falsch verstehen. Ob der Hund ihn versteht, ist Erziehungsfrage. Auch die zehn Gebote bestehen aus solchen einfachen Befehlen, z.B. „Du sollst nicht stehlen“.

Eine auf einfachen Befehlen gründende Rechtsordnung ist wenig geeignet, fehleranfällig und so rechtsunsicher ausgestaltet zu werden. Deshalb, aber nicht nur deshalb, bestehen moderne Rechtsvorschriften aus konditionierten Befehlen, also aus Befehlen, die unter mindestens einer Bedingung stehen: „Wenn die Ampel rot ist, sitz!“ Oder: „Wer stiehlt, der wird ins Gefängnis geworfen.“ Abstrakt formuliert: „Wenn A, dann X“. „Wenn A“ ist der sogenannte Tatbestand einer Norm. „dann X“ ist die sogenannte Rechtsfolge der Norm. Das ist die Grundstruktur unserer Rechtsordnung.

Während beim einfachen Befehl der Fehler nur darin bestehen kann, dass der Mensch nicht versteht, was gemeint ist, verlangt der konditionierte Befehl, dass der Befehlsempfänger nachdenkt. Nachdenken vervielfacht die Möglichkeit von Fehlern. Um einen konditionierten Befehl befolgen zu können, muss der Befehlsempfänger nicht nur verstehen, welches Verhalten von ihm verlangt wird, sondern er muss zusätzlich verstehen, unter welchen Voraussetzungen, also unter welcher Bedingung er dieses Verhalten zeigen soll, und erkennen, wann die Bedingung eintritt – in der Sprache der Juristen: der Tatbestand erfüllt ist. Übrigens: Umgekehrt gilt das nicht zwangsläufig. Der Befehlende kann den Befehl auch unter eine Bedingung stellen, die er selbst nicht versteht. Er wird dann allerdings nicht feststellen können, ob der Befehl befolgt wird …

Die Sprache

Die nächsten Schritte um die Fehleranfälligkeit einer Rechtsordnung und damit die Rechtsunsicherheit zu steigern, setzen an der Sprache des Rechts und an der Formulierung von Rechtsvorschriften an. Verwendet können wir die Strategien der Verunklarung und der Vergrämung.

Step 2: Alltagssprache als Fachsprache des Rechts

Die Verwendung der Alltagssprache als Sprache des Rechts ist ein genialer Schachzug, um Rechtsunsicherheit zu erzeugen. Dieser Schachzug öffnet Strategien der Verunklarung und der Vergrämung Tür und Tor.

Gesetzt den Fall, im Tatbestand einer Norm ist der Begriff „Stuhl“ enthalten. Dann wird jeder eine Vorstellung davon haben, was mit „Stuhl“ gemeint ist. Allerdings wird die Abgrenzung zum Sessel schwierig. Es gibt natürlich Sitzgelegenheiten, von denen jeder sagen wird, es handele sich um einen Sessel. Aber manche Sitzgelegenheit wird man nicht eindeutig zuordnen können. Die einen werden sagen, es handele sich um einen gut gepolsterten Stuhl, die anderen, es handele sich um einen unbequemen Sessel. Allerdings hat Sprache immer Bereiche, in denen die Begriffe sich überschneiden und Gegenstände oder Ereignisse nicht eindeutig zugeordnet werden können. Diese unvermeidbaren Unschärfen sind also noch nicht die eigentliche Gemeinheit.

Der eigentliche Trick, um die Fehleranfälligkeit unseres Rechtssystems zu erhöhen, ist vielmehr folgendes Prinzip:

Die in der Sprache des Rechts verwendeten Begriffe sind zwar die der Alltagssprache, haben jedoch eine etwas andere Bedeutung als in der Alltagssprache.

Stellen Sie sich vor, Sie landen auf einem anderen Planeten und die Bewohner dort sprechen Ihre Sprache. Aber die Begriffe bedeuten nicht immer genau dasselbe wie in unserer Sprache. Dort würde man auch ein Bett als Stuhl bezeichnen oder ein Motorrad als Auto. Sie würden in permanenter Verunsicherung leben. So ist das mit der Juristensprache. Damit hätten wir bei der einfachen Norm „Wenn A, dann B.“ schon einmal die Chance eines Fehler bei ihrer Anwendung um zwei Fehlerquellen erhöht: Sie können sich niemals sicher sein, ob A auch A und B auch B bedeutet. Und diese permanente Verunsicherung führt dazu, dass der juristische Laie mit dem Recht nichts mehr zu tun haben will, ihn also vergrämt und notgedrungen das Feld dem juristischen Profi überlässt.

Step 3: Regeln zum Erstellen unverständlicher Texte

Ein weiteres probates Mittel, die Fehleranfälligkeit der Rechtsordnung zu steigern, ist es, Gesetze gehirnfeindlich formulieren. Auch das ist eine wirksame Vergrämungsstrategie. Gehirnfeindliche Formulierungen strengen den Leser an, ermüden ihn, bis er irgendwann Aufmerksamkeit und Konzentration verliert und das Weiterlesen aufgibt. Und liest er trotzdem weiter, macht er Fehler.

Wie formuliert man gehirnfeindlich? Indem man genau das macht, was das Gehirn nicht mag. Unser Gehirn macht sich z.B. gerne Filme. Es mag plastische Regieanweisungen. Deshalb lebt eine Erzählung von den Verben und von der Tätigkeitsform, dem Aktiv. Unser Gehirn mag es auch, wenn die begrenzte Verarbeitungskapazität des verbalen Arbeitsgedächtnisses nicht ausgereizt oder gar überschritten wird. Dieses kann maximal sieben (plus oder minus zwei) Informationseinheiten gleichzeitig verfügbar halten.

Daraus lassen sich folgende allgemeingültige Regeln zum Erstellen unverständlicher Texte ableiten, an die wir uns strikt halten sollten, wenn wir die Leser unserer Gesetze vergraulen wollen:

  • Vermeide das Aktiv, verwende das Passiv!
  • Verwende lange Sätze!
  • Kein Satz ohne mehrere Gedanken!
  • Kernaussagen ans Ende!
  • Vermeide Hauptsätze ohne mehrere Nebensätze!
  • Hauptgedanken in die Nebensätze!
  • Vermeide Verben! Bevorzuge Substantive!
  • Ersetze Relativsätze durch Attributketten, insbesondere durch umfangreiche Partizipialkonstruktionen!
  • Benutze Füllwörter!
  • Benutze lange Wörter!

Lassen Sie uns das mal zusammen ausprobieren:

Wir wollen folgendes regeln: Es besteht der Verdacht, dass ein Tier an einer Tierseuche erkrankt ist. Die Behörde soll anordnen können, dass das Tier diagnostisch untersucht wird, dabei sogar getötet und zerlegt werden kann, wenn sich anders nicht feststellen lässt, ob eine Tierseuche ausgebrochen ist.

Wir formulieren zunächst:

„Die zuständige Behörde kann anordnen, dass ein Tier, das im Verdacht steht, an einer Tierseuche erkrankt zu sein, diagnostisch untersucht wird. Voraussetzung ist, dass ohne diese Untersuchung nicht zuverlässig festgestellt werden kann, ob eine Tierseuche ausgebrochen ist. Wenn es zum Zwecke dieser Untersuchung erforderlich ist, kann das Tier auch getötet und zerlegt werden.“

Diese Regelung ist verständlich. Wir müssen sie jetzt also gehirnfeindlich umformulieren. Dazu nehmen wir den zweiten Hauptsatz und machen ihn zum Nebensatz. Damit schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe: Das Wichtigste steht nicht mehr am Anfang. Und wir haben die Satzlänge verdoppelt. Für mehr Abstraktion sorgt es, wenn wir „Untersuchung“ durch „Maßnahme“ ersetzen:

„Wenn ohne bestimmte diagnostische Maßnahmen an einem Tier nicht zuverlässig festgestellt werden kann, ob eine Tierseuche ausgebrochen ist, kann die zuständige Behörde diese Maßnahmen an einem Tier, das im Verdacht steht, an einer Tierseuche erkrankt zu sein, anordnen. Das gilt auch, wenn es dazu notwendig ist, das Tier zu töten und zu zerlegen.“

Das genügt natürlich nicht: Jetzt ersetzen wir Verben und Relativsätze durch Substantive und Attribute und verwandeln die bislang noch vorhandene Tätigkeitsform in die Leidensform:

„Soweit über den Ausbruch einer Tierseuche nur mittels bestimmter an einem verdächtigen Tier durchzuführender Maßnahmen diagnostischer Art Gewissheit zu erlangen ist, können diese Maßnahmen von der zuständigen Behörde angeordnet werden. Dies gilt auch, wenn die Gewissheit nur durch die Tötung und Zerlegung des verdächtigen Tieres zu erlangen ist.“

Rein zufällig entspricht diese Fassung dem geltenden § 5 Abs. 3 Satz 1 des Tiergesundheitsgesetzes. Leider hat der Gesetzgeber das Potential, möglichst unverständlich zu formulieren, in dieser Vorschrift nicht ausgeschöpft. Wir integrieren jetzt den verbliebenen zweiten Hauptsatz, stellen ein wenig um und verwandeln noch ein paar Verben in Substantive und fügen noch ein paar belanglose, aber nicht falsche Substantive und Inhalte hinzu. Wir müssen ja schließlich klarstellen, dass die Regelung auch für mehrere Tiere gelten und worauf die Zuständigkeit der Behörde beruhen kann …

„Besteht für die Erlangung von Gewissheit über den Ausbruch einer Tierseuche die Erforderlichkeit der Durchführung bestimmter an im Verdacht einer Erkrankung an einer Tierseuche stehendem Tier oder an in Verdacht einer solchen Erkrankung stehenden Tieren durchzuführender Maßnahmen diagnostischer Art, hat die nach diesem Gesetz oder anderen Gesetzen zuständige Behörde, auch, wenn für die Ermöglichung der Erlangung der Gewissheit über den Ausbruch einer Tierseuche die Notwendigkeit der Tötung und Zerlegung des im Verdacht einer Erkrankung an einer Tierseuche stehenden Tieres oder der im Verdacht einer Erkrankung an einer Tierseuche stehenden Tiere besteht, die Berechtigung zur Anordnung der Durchführung von Maßnahmen diagnostischer Art an einem im Verdacht einer Erkrankung an einer Tierseuche stehendem Tier oder an in Verdacht einer solchen Erkrankung stehenden Tieren.“

Wenn Sie jetzt keine Lust mehr haben weiterzulesen, weil es einfach zu anstrengend ist, dann hat der Gesetzgeber alles richtig gemacht.

Step 4: Für Fortgeschrittene: Gendern

Für fortgeschrittene Adepten der der Vergrämungsstrategie bietet sich als weitere Möglichkeit, Gesetze gehirnfeindlich zu formulieren, an, konsequent zu gendern. Gendern macht Spaß. Sie wollen wissen, wer im Falle des Todes eines Verletzten strafantragsberechtigt ist? Dann lesen Sie mal folgenden gegenderten § 77 Abs. 2 StGB über die Antragsberechtigung für Strafanträge:

(2) Stirbt die oder der Verletzte, so geht ihr oder sein Antragsrecht in den Fällen, die das Gesetz bestimmt, auf die Ehegattin oder den Ehegatten, die Lebenspartnerin oder den Lebenspartner und ihre oder seine Töchter und Söhne über. Hat der Verletzte weder eine Ehegattin oder einen Ehegatten, oder eine Lebenspartnerin oder einen Lebenspartner noch eine Tochter oder einen Sohn hinterlassen oder ist diese oder dieser oder sind diese vor Ablauf der Antragsfrist gestorben, so geht das Antragsrecht auf ihren oder seinen Vater und auf ihre oder seine Mutter und, wenn auch sie oder er vor Ablauf der Antragsfrist gestorben ist oder sie gestorben sind, auf ihre oder seine Schwestern und Brüder und ihre oder seine Enkelinnen und Enkel über. Ist eine Angehörige oder ein Angehöriger an der Tat beteiligt oder ist ihre oder seine Verwandtschaft erloschen, so scheidet sie oder er bei dem Übergang des Antragsrechts aus. Das Antragsrecht geht nicht über, wenn die Verfolgung dem erklärten Willen der Verletzten oder des Verletzten widerspricht.

Nicht nur für den Strafrechtler, sondern auch für den Verfassungsrechtler interessant wäre sicherlich auch ein gegenderter Art. 104 Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes – GG ‑:

(3) Jede wegen des Verdachtes einer strafbaren Handlung vorläufig Festgenommene und jeder wegen des Verdachtes einer strafbaren Handlung vorläufig Festgenommene ist spätestens am Tage nach der Festnahme der Richterin oder dem Richter vorzuführen, die oder der ihr oder ihm die Gründe der Festnahme mitzuteilen, sie oder ihn zu vernehmen und ihr oder ihm Gelegenheit zu Einwendungen zu geben hat.

Allerdings muss man bei der Verunklarung durch Gendern auf der Hut sein. Manche Normen bekommen durch Gendern eine besondere Note:

§ 212 Totschlag

Wer eine Frau oder einen Mann tötet, ohne Mörderin oder Mörder zu sein, wird als Totschlägerin oder Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft.

Weiter geht es mit Der Aufbau von Rechtsvorschriften – Über gehirnunfreundlichen Normaufbau und raffinierte Verweisungstechniken!

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